Skizzen Berlins aus slowenischem Blick

Tag der offenen Tür in Berlin. Photographiert in der Kantstraße


»Berlin hat mich von meinem Körper getrennt«, schreibt der slowenische Poet Ales Steger nach seinem zweijährigen Berlinaufenthalt. »Ich suchte nach ihm wie nach einem abgerissenen Kalenderblatt. Währenddessen sind die Szenen, Straßen, Gesichter langsam in mich eingezogen. Die Zeit existiert nicht außerhalb dieser Straßen, Szenen und Gesichter. Erst im Raum, in ihrer verschwenderischen Selbstverzehrung, erhalten die Stunden eine Bedeutung.«
Der 1973 Geborene gilt als der bedeutendste slowenische Schriftsteller seiner Generation. 2006 veröffentlichte der Suhrkamp Verlag Gedichte von ihm. Nun erscheint ein kleiner Band mit Miniaturstücken des Flanierens durch Berlin. Der Band Preußenpark versammelt Eindrücke von Orten in Berlin. Von Stellen, Wunden, offenen und vielleicht niemals heilenden. Steger schildert Bäckereien und Apotheken, die U-Bahn, das KaDeWe und den Dahlemer Waldfriedhof. Seine Sichtweise ist speziell. Genau, empfindsam, – ein wenig osteuropäisch. Aber niemals berechenbar. 
Lebt man in dieser Stadt, diesem Moloch, hat man sich an manches gewöhnt, sieht vieles Schräge gar nicht mehr. Ales Steger fällt auf, dass in beinahe jeder Straße ein Bäckerladen ist. Und daneben eine Apotheke. »Als brauche eine Stadt, die sich überfressen hat, auf Schritt und Tritt ein Klestier.«
Die kurzen Texte hauchen die Geschwindigkeit dieser einzigen deutschen Metropole zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Leser hört die Presslufthämmer, spürt den Staub und riecht die Abgase körperlich. Er ist unweigerlich erinnert an Franz Hessel, diesen frühen Flaneur durch Berlin. Und natürlich an Walter Benjamin. Der Autor beobachtet und beschreibt. Und er wertet. Ales Steger wohnt genau über dem Keno, einem Restaurant in der Lietzenburger Straße. »Von innen das Grab des Tutenchamun, ein Jupitertempel, ein Pantheon, eine Charlottenburger Simulation und ein beliebter Treffpunkt von Leuten, die man Halsabschneider nennt.«  Monatelang weigert er sich, den kitschigen Showroom zu betreten, bis ihn irgendwann die Neugier packt. 
Ales Steger rennt durch die Stadt des Hundekots, die Stadt der Sozialhilfeempfänger. Die Stadt, in der man schon mittags eine Bierflasche in Händen hält und in der Neureiche immer ungenierter ihr Geld zeigen und ihre Hohlheit zur Schau tragen. »Die Ränder der zerbrochenen Zeit sind überall sichtbar. Sie zu verbergen, zu flicken – das gelang nicht mal der von Aufbau und Erneuerung besessenen deutschen Hand.«
Die kleinen Essays sind emphatische Miniaturstücke, denen es gelingt, Atmosphäre in Sprache zu fügen. Sie können uns erhellen, was wir längst für normal halten.




Ales Steger, Preußenpark. Berliner Skizzen. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2010, Edition Suhrkamp 2569, Broschur, 159 Seiten, 10 Euro.



Ernst Jünger in Bildern und Texten

Buch-Cover
 
Ernst Jünger reflektierte 1934 nach seiner existentiellen Grenzerfahrung des Ersten Weltkrieges über den Menschen der Zwischenkriegszeit:
»Wenn man den Typus, wie er sich in unseren Tagen herausbildet, mit einem Worte kennzeichnen sollte, so könnte man sagen, daß eine seiner auffälligsten Eigenschaften im Besitz eines ‚zweiten‘ Bewußtseins besteht. Dieses Zweite und kältere Bewußtsein deutet sich an in der sich immer schärfer  entwickelnden Fähigkeit, sich selbst als Objekt zu sehen.«
Von sich selbst und seinem eigenen Anspruch sprach Jünger wohl nicht zuletzt, – in seinem Essay »Über den Schmerz«, aus dem diese Passage ist. Von seinen Kritikern, die Jünger seine kalte Distanz, seinen beinahe undurchdringlich scheinenden Panzer vorwarfen, ist übersehen worden, dass es sich dabei um einen Selbstschutzreflex handelte. Dies ist jüngst bestätigt worden durch ein beeindruckendes Interview mit seinem Verleger Michael Klett. Klett erzählt, dass sich Jünger bei besonders schmerzhaften Lebenssituationen selbst körperlich verletzte – heute nennen das die Psychologen: ritzte – um den seelischen Schmerz durch einen physischen zu übertrumpfen. Eigens für diesen Zweck soll Jünger stets eine Nadel am Jackett getragen haben.
Es ist diese Distanziertheit, diese dandyeske Verpanzerung, gepaart mit ungeheurer Sensibilität, die wiederum die Voraussetzung ist für ein möglichst objektives Wahrnehmen des Geschehens. Jünger wählte für diesen seinen Anspruch des möglichst neutralen Beobachterpostens die Vokabel der désinvolture,  ein so nicht ins Deutsche übertragbares Wort. Heimo Schwilks nun in erweiterter und aktualisierter Form neu veröffentlichte Bild-Biographie gibt davon anschaulich Zeugnis. Bereits die erste Ausgabe enthielt 1988 unzählige Bild- und Textdokumente, die zuvor noch nie veröffentlicht worden waren. Nun erweiterte der Jünger-Biograph dieses Standardwerk um das letzte Lebensjahrzehnt  Ernst Jüngers, der am 17. Februar 1998 nur wenige Wochen vor seinem 103. Geburtstag starb.
Dem fulminanten werkbiographischen Essay Schwilks ist dessen detaillierte Kennerschaft von Werk und Leben Jüngers anzumerken. In dem hinzugekommenen, dem nun abschließenden Teil »1988 – 1998. Die Toten kommen näher« schreibt der Biograph: »Auf die Jahreswende 1997/ 98 geht Jünger mit dem festen Vorsatz zu, dem Tagebuchzyklus ‚Siebzig verweht‘ noch einen weiteren Band hinzuzufügen, doch es gibt auch Zeichen des Abschieds. Auf einen Kartengruß an die Freunde läßt er ein Selbstzitat drucken, in dem er sich auf Charon bezieht, den Fährmann, der die Verstorbenen über den Fluß Styx zur Toteninsel übersetzt: ‚Der Styx beginnt zu schimmern; er lädt ein.‘«
Das opulente, großformatige Buch Ernst Jünger – Leben und Werk in Bildern und Texten ist Vorbild gebend für eine Buchgattung, die versucht, sich einem Schriftsteller zu nähern durch die Zusammenstellung von Photodokumenten mit Texten aus dem Werk und Auszügen aus Briefen. Das dient nicht nur Lesern, die gerade anfangen, sich für Jünger zu interessieren. Auch diejenigen, die bereits vieles wissen über die Biographie des Jahrhundert-Diaristen, die einige seiner Bücher gelesen haben, erhalten neue Hinweise. Ein weiterer Vorteil der Neuausgabe neben der Ergänzung um das letzte Jahrzehnt ist die neue Gewichtung vieler Photos, die der Klett-Cotta Verlag nun wesentlich größer bringt.
Jünger selbst stand der Photographie skeptisch gegenüber. Schwilk zitiert an das erste Zitat dieser Rezension anschließend eine weitere Passage aus »Über den Schmerz«, in der Jünger die Photographie als »revolutionäre Tatsache« bezeichnet. Seit dem Ersten Weltkrieg gebe es kein bedeutendes Ereignis, konstatiert Jünger, das nicht auf diese Weise aufgenommen wurde:
»Das Bestreben läuft darauf hinaus, auch Räume einzusehen, die dem menschlichen Auge verschlossen sind. Das künstliche Auge durchdringt die Nebelbänke, den atmosphärischen Dunst und die Finsternis, ja den Widerstand der Materie selbst; optische Zellen arbeiten in den Abgründen der Tiefsee und der großen Höhe der Registrierballons.« Jünger ist allerdings der Auffassung, dass der kalte und teleskopische Blick der Kamera dem des Menschen entspreche. »Die Aufnahme steht außerhalb der Zone der Empfindsamkeit.« 
So kommt der durch den Grabenkrieg Geprägte zu dem Schluss: »Die Photographie ist also ein Ausdruck der uns eigentümlichen, und zwar einer grausamen, Weise zu sehen. Letzten Endes liegt hier eine Form des Bösen Blickes, eine Form von magischer Besitzergreifung vor. Das empfindet man sehr wohl an Stätten, an denen noch eine andere kultische Substanz lebendig ist. Im Augenblick, in dem eine Stadt wie Mekka photographiert werden kann, rückt sie in die koloniale Sphäre ein.« 
Heimo Schwilks äußerst gelungene Bild- und Textbiographie gibt dem an Ernst Jünger Interessierten Gelegenheit, dies zu überprüfen.

Heimo Schwilk (Hg.), Ernst Jünger – Leben und Werk in Bildern und Texten. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010, 336 Seiten, gebunden, mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen, bis zum 31. Januar 2011 Euro 49,95, danach 59,95. 

 
 

Hans-Hasso von Veltheims 125. Geburtstag – Tagung und Konzert auf Schloss Ostrau

Das Plakat zu den Veranstaltungen im Schloss Ostrau



Aus Anlass des 125. Geburtstages von Hans-Hasso von Veltheim am 15. Oktober 2010 veranstaltet die Ostrau-Gesellschaft e.V. in Kooperation mit dem Ostrauer Kulturverein e.V. ein öffentliches Symposion. Es wird stattfinden am Samstag und Sonntag, 16. und 17. Oktober 2010 auf Schloss Ostrau, dem ehemaligen Wohnsitz des deutschen Dandys. 
Die Presseerklärung der Ostrau-Gesellschaft:

Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem letzten adeligen Besitzer des Ostrauer Schlosses gibt es ebenso gute Gründe wie für die Veranstaltung eines Konzerts zu seinen Ehren. Hans-Hasso von Veltheim, der das Ostrauer Schloss und das dazu gehörende Land von 1927 an besaß, war kein klassischer Gutsherr mehr. Als Ehrenritter des Johanniter-Ordens hatte er sich zur Wohltätigkeit verpflichtet. Erinnert sei an die umfassende Sanierung des Parks, den er anschließend der Öffentlichkeit zugänglich machte. Darüber hinaus hat Hans-Hasso von Veltheim der Nachwelt in der evangelischen Schlosskirche eine Kapelle im anthroposophischen Stil hinterlassen, die als baugeschichtlich einmalig gelten kann und seit Jahren viele Besucher nach Ostrau lockt. Aus heutiger Sicht besonders zu würdigen ist seine Einladung zum Dialog an jeden, der offenen Herzens und Geistes zu ihm nach Ostrau kam. Die Renovierung des 1927 arg verfallenen Schlosses diente daher nicht allein der adeligen Repräsentation, sondern der Errichtung eines Ortes der interkulturellen Begegnung.
 

Sich selbst hatte von Veltheim als ein modernes Individuum begriffen, das nicht mehr auf die Sicherheit eines seit Generationen kultivierten Selbstverständnisses vertrauen konnte.
Seine lebenslange Suche nach Identität und Orientierung spiegelt sich in seinen Büchern und unzähligen Briefen. Hier erscheint Hans-Hasso von Veltheim als eine am politischen, weltanschaulichen und religiösen Leben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts außerordentlich beteiligte Person.

Auf Grund der ausgezeichneten Überlieferung können an der Person Hans-Hasso von Veltheims zahlreiche kulturgeschichtliche Fragestellungen erörtert werden. Im Rahmen der Tagung wird es vor allem um sein literarisches Werk, seine Freundschaften zu Leo Baeck und Richard Wilhelm und um die von ihm errichtete Grabaltarkapelle in der evangelischen Schlosskirche gehen. Die Referenten zu dieser ersten Tagung im Ostrauer Schloss reisen aus dem gesamten Bundesgebiet an. 
Aus Anlass der Aufnahme des Ostrauer Schlossparks in das Landesprojekt „Gartenträume“ ist ein zusätzlicher Vortrag in das Programm aufgenommen worden. Frau Heike Mortell,
Referentin am Landesamt für Archäologie und Denkmalpflege,
spricht am 16.10.2010 um 17.20 Uhr über die „Geschichte des Schlossparks Ostrau“.
 

Am Samstagabend findet ein Liederabend im Bibliothekssaal des Ostrauer Schlosses statt. Gabriele Schmidt, Sängerin am Opernhaus Halle, wird mit ihrem Klavierpartner Allan Duarte Manhas Werke von Robert Schumann und Richard Strauß zu Gehör bringen. Als besondere Zugabe stehen Lieder von Hermann Bönicke auf dem Programm, die dieser Hans-Hasso von Veltheims Großmutter, Clara von Veltheim, gewidmet hatte.
 

Die Vorträge finden am Samstag zwischen 14 und 18 Uhr und am Sonntag zwischen 10.30 und 15 Uhr statt. Das Konzert am Samstag beginnt um 19.30 Uhr.
 

Die einzelnen Vorträge und das Konzert können unabhängig voneinander und ohne Voranmeldung besucht werden. Für ein kurzes Signal vorab wären wir dennoch dankbar. Am Samstag vor dem Konzert und am Sonntag zwischen den Vorträgen besteht die Möglichkeit zu einem Abend- bzw. Mittagessen. Die Anmeldung zu den Mahlzeiten erbitten wir bis zum 10.10.2010 unter: 0345 / 976 04 17, 0174 / 142 32 39, info@ostrau.de, 
www.ostrau.de. Hier finden sie auch das vollständige Programm.
 

Für Rückfragen steht Ihnen John Palatini, Vorstand der Ostrau-
Gesellschaft und Leiter der Tagung, gern zur Verfügung:
0345 / 171 49 66
0177 / 672 82 00
john.palatini@germanistik.uni-halle.de

Über die lesenswerte Biographie:



La Bohème im Museum Ludwig Köln

Alphonse Mucha, Paul Gauguin am Harmonium in Muchas Atelier, Paris, um 1893/94, 
Silbergelatine, 24 x 18 cm, Mucha Foundation, Prag
© Alle Photos: Museum Ludwig Köln



Im Museum Ludwig in Köln hat die Ausstellung
La Bohème
Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts
eröffnet (noch bis zum 9. Januar 2011).

Das Museum schreibt:

„Die Bohème ist die Vorstufe des Künstlerlebens. sie ist die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zum Leichenschauhaus.“
So charakterisiert der französische Autor Henri Murger das Phänomen in seinen 1851 erschienenen Buch Scènes de la Vie de Bohème: ein Durchgangsstadium, das durch Normverstöße in der Lebensführung provoziert und fasziniert. Das Bild vom Künstler als Außenseiter, der im bürgerlichen Zeitalter in romantischer Armut lebt, wurde heiter verklärt und durch Puccinis Oper, die auf Murgers Urtext basiert, vollends popularisiert. Damit wurde der Begriff Boheme zum Synonym für den Künstler des 19. Jahrhunderts, der einem anonymen Markt ausgesetzt und gezwungen war, seine Leistungen zu verkaufen, um zu überleben. Mitten in die Zeit der Entstehung der Boheme-Legende zur Untermauerung künstlerischen Selbstbewusstseins fiel die Erfindung der Fotografie. Wie stark die schillernde Lebenseinstellung der Musiker, Schriftsteller, Maler und auch der Fotografen selbst sich in fotografischen Inszenierungen spiegelt, zeigt diese Ausstellung im Museum Ludwig.



Carl Rudolf Huber (zugeschrieben): 

Gruppenbild mit Franz von Lenbach, Hans Makart, Adolf Gnauth, Leopold Carl Müller und Georg Ebers anlässlich ihrer Ägyptenreise1875/76, Albuminpapier, 
Sammlung Dietmar Siegert




http://www.museenkoeln.de/museum-ludwig/default.asp?s=3140

Museum Ludwig
Heinrich-Böll-Platz
50667 Köln

Öffnungszeiten:
Dienstags bis sonntags (inklusive Feiertage) 10.00 bis 18.00 Uhr
jeden 1. Donnerstag im Monat: 10.00 bis  22.00 Uhr
montags geschlossen

Jeden Sonntag um 15.00 Uhr öffentliche Führungen.


Der Entdecker des LSD

Der Entdecker des LSD, Albert Hofmann, im 95. Lebensjahr mit Anwendern
Photograph unbekannt/ photograph unknown



Der DANDY-CLUB weist hin auf die Neuveröffentlichung von Albert Hofmann, LSD – mein Sorgenkind. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010, 224 Seiten, Leinen mit Lesebändchen, Euro 19,90.

Umso mehr die Menschen sich auf sich selbst einlassen, desto weniger wird ihr Leben durch ‚Zufälle‘ bestimmt. Albert Hofmann, der im April 2008 mit 102 Jahren verstarb, ist exakt genauso alt geworden, wie sein Freund Ernst Jünger. Beide führten zusammen mehrere Sitzungen durch, in denen sie die Wirkung verschiedener Rauschmittel testeten.

Der Mitarbeiter des schweizerischen Chemiekonzerns Sandoz forschte 1938 nach einer Substanz, die den Kreislauf stimuliert. Hofmann synthetisierte aus Mutterkorn, einem Getreidepilz, das Lysergsäurediethylamid. Im Tierversuch enttäuschte das LSD. Hofmann und Sandoz verloren das Interesse und suchten in andere Richtungen.

Erst fünf Jahre später, am 16. April 1943 wiederholte Hofmann die Synthese von LSD. Dabei stieß er auf die erstaunliche, halluzigene Wirkung der Substanz. – Hofmann muss wohl mit dem LSD in Berührung gekommen sein. Die Wirkung animierte ihn zu einem anschließenden Selbstversuch, um der Wirkung der Droge auf den Grund zu gehen. »Schwindel und Ohnmachtsgefühl wurden zeitweise so stark, daß ich mich nicht mehr aufrechthalten konnte und mich auf ein Sofa hinlegen mußte«, berichtet der Chemiker in seinem nun neu veröffentlichten Buch LSD – mein Sorgenkind. »Meine Umgebung hatte sich nun in beängstigender Weise verwandelt. Alles im Raum drehte sich, und die vertrauten Gegenstände und Möbelstücke nahmen groteske, bedrohliche Formen an.« Hofmann erkannte seine vertraute Nachbarsfrau nicht mehr wieder: »Das war nicht mehr Frau R., sondern eine bösartige, heimtückische Hexe mit einer farbigen Fratze. «

Schlimmer jedoch als alle Veränderungen im Äußeren, nahm der Schweizer die Veränderungen seiner Psyche war: »Alle Anstrengungen meines Willens, den Zerfall der äußeren Welt und die Auflösung meines Ich aufzuhalten, schienen vergeblich. Ein Dämon war in mich eingedrungen und hatte von meinem Körper, von meinen Sinnen und von meiner Seele Besitz ergriffen. Ich sprang auf und schrie, um mich von ihm zu befreien, sank dann aber wieder machtlos auf das Sofa. Die Substanz, mit der ich hatte experimentieren wollen, hatte mich besiegt. Sie war der Dämon, der höhnisch über meinen Willen triumphierte.«

Das zuerst 1979 veröffentlichte Buch ist sowohl Erfahrungsbericht, wie auch eine Art von Forscher-Tagebuch. Hofmann beendet die Mär vom reinen Zufall, das LSD entdeckt zu haben. Er beschreibt, wie Sandoz ihn gezielt auf die Suche schickte. – Auch wenn das Entdecken der berauschenden und Sinn-erweiternden Wirkungen dann ungeplant geschah.

Hofmann sieht sich an mehreren Stellen des Buches veranlasst, vor einem leichtfertigen Umgang mit LSD zu warnen. So will er das Werk keinesfalls verstanden wissen als Aufforderung zum Drogenkonsum, – wovon schon der Titel zeugt.

Dennoch vermag das Buch, die Wirkungen verschiedener Rauschmittel ohne Verklärung zu beschreiben. 1962 nimmt Hofmann zusammen mit Ernst Jünger in dessen Wilflinger Oberförsterei Psilocybin ein, um den Unterschied zu LSD am eigenen Leib zu erfahren. Vorausgegangen waren dem ‚Psilocybinsymposion‘ umfangreiche wissenschaftliche und literarische Lektüren. »Je tiefer ich in den Rausch versank, desto fremdartiger wurde alles. Ich selbst wurde mir fremd. Unheimlich, kalt, sinnlos, menschenleer waren die in einem toten Licht daliegenden Stätten, die ich durchschritt, wenn ich die Augen schloß. Sinnentleert, gespenstisch erschien mir auch die Umgebung, wenn ich die Augen öffnete und versuchte, mich an die äußere Welt zu klammern. Die völlige Leere drohte mich ins absolute Nichts hinabzuziehen.«

So kann es nicht verwundern, wie Albert Hofmanns noch heute erstaunliches Buch endet: Mit einem Aufruf, der Mensch möge in Einklang mit der Natur leben und nicht gegen sie. Heutige Umweltschutz-Maßnahmen blieben an der Oberfläche, weil es ihnen an der tieferen Einsicht mangele. »Heilung würde heißen: existentielles Erleben einer das Ich einschließenden tieferen Wirklichkeit.«

DANDY-CLUB-Empfehlung! (Nicht die Droge, – das Buch!!!)




Eine kaiserliche Orgie

Das Jagdschloss Grunewald auf einem Gemälde von Johann Friedrich Nagel, 1788 



Es war ein veritabler Sittenskandal am Ende des 19. Jahrhunderts, der das Kaiserreich zutiefst erschütterte – aber in Vergessenheit geriet.
Der DANDY-CLUB rezensiert  Wolfgang Wippermann, Skandal im Jagdschloss Grunewald, Primus Verlag, Darmstadt 2010, 167 Seiten, Euro 19,90.

Romantisch war die Anfahrt für den Konvoi der Pferdeschlitten durch den verschneiten Berliner Grunewald. Es war schon Abend, als die 15 Mitglieder der Hofgesellschaft Wilhelms II. 1891 am Jagdschloss Grunewald ankamen. Unter ihnen waren Charlotte von Sachsen-Meinigen, eine Schwester des Kaisers und ein Schwager, Herzog Ernst-Günther von Schleswig-Holstein.

Man hatte sich allerdings nicht verabredet, um Glühwein einzunehmen. Heute würde man die Veranstaltung titulieren als – Swingerabend. Es ging um nichts anderes als Sex. Sex jeder mit jedem, in allen möglichen Stellungen und Varianten.

Die Frauen haben anfänglich animiert – und dann haben sich die Männer untereinander vergnügt.

Aus diesem für die Beteiligten vergnüglichen Abend wurde anschließend einer der größten Skandale des Kaiserreichs, – der heute in Vergessenheit geraten war. Der Historiker Tobias Bringmann hat darüber geforscht, und der umstrittene Historiker Wolfgang Wippermann nun ein Buch gemacht.

Die Geschichte kam ins Rollen, weil einer der Teilnehmer – oder Teilnehmerinnen – wohl doch nicht ganz so glücklich war. Er oder sie petzte die Geschehnisse des amourösen Abends in allen Einzelheiten in unendlichen Briefen an Mitglieder der höchsten Gesellschaft. In einem der anonymen Schreiben an Wilhelm Graf Hohenau vom Juni 1892 heißt es:

»Stadtbekannt ist, dass Ihre Frau Schwägerin nicht eher ruht, bis sie mit sämmtlichen Prinzen auf du und du und, wenn irgend möglich, in geschlechtliche Berührung gekommen ist. Es ist schier unbegreiflich und eine ganz aparte Art von Tollheit, daß diese sich sonst so zimperlich gebärdende Person sich jedem Prinzen ohne Weiteres an den Hals wirft und, wie diese Herrn theils selbst erzählt haben, ganz unaufgefordert die Röcke hochhebt – schlimmer wie das mannstollste Weib!«



 Zeremonienmeister Leberecht von Kotze (Photograph unbekannt)



Wilhelm II. sah sich zum Handeln gezwungen und ließ den Zeremonienmeister Leberecht von Kotze verhaften. In mehreren Stufen musste der Kaiser das Recht brechen, um Kotze verhaften lassen und vor ein Militärgericht stellen zu können. Das half aber alles nichts; er war augenscheinlich unschuldig. Kotze kam zu Hilfe, dass die anonymen Briefe weitergingen, als er inhaftiert war. Kotze verlangte nach seiner Rehabilitierung von allen an seiner Verfolgung Beteiligten ein Duell. Jeweils ein Duell, muss man hinzufügen. Die drei Gegner und Kotze einigten sich auf ein sogenanntes Kollektivmandat, was bedeutete, dass sich nur einer der Männer mit dem Zeremonienmeister zu duellieren hatte. Dies Duell fand dann am Ostersamstag (!) des Jahres 1895 in der Nähe des Bahnhofes Halensee statt. Es endete nach dem sage und schreibe achten Kugelwechsel mit einer Verwundung Kotzes. Dem im Krankenhaus liegenden Kotze ließ der Kaiser ein Geschenk senden: ein Osterei.

Das Buch schildert einen süffisanten Skandal im untergehenden Kaiserreich Wilhelm II. So spannend das Thema – auch für weitere historische Entwicklungen und Veränderungen – so schwer bis unerträglich ist das Buch stellenweise zu lesen. Der Leser fragt sich, warum Wippermann gleich zu Beginn hasserfüllt gegen die Begriffe von Ehre und Treue polemisiert und sie ausschließlich mit Hitlers SS verbindet. Das Erstaunen nimmt zu, hält der Leser die Lektüre bis zum siebten Kapitel durch. Das heißt »Stahlgewitter« und poltert gegen Ernst Jünger. Weil Wippermann keine eigenen Argumente hat, muss er Klaus Theweleit okkupieren, dessen Thesen zu ‚Männerphantasien‘ er referiert. Jünger dient ihm als Exempel für »atavistische und faschistische Männlichkeit«. Gott sei Dank ist der Betrieb da inzwischen ein Stück weiter gekommen, auch wenn es Professor Wippermann noch nicht gemerkt hat.



 Das Jagdschloss Grunewald im Jahr 1900



Ernst Jünger in der Bild

Das Feuilleton der Bild-Zeitung von heute



Die Leser trauten heute morgen ihren Augen nicht: Die Bild-Zeitung bringt fast auf einer ganzen Seite Auszüge aus dem gerade veröffentlichten Kriegstagebuch von Ernst Jünger.
O-Ton Bild: „Es sind die wichtigsten Augenzeugen-Berichte aus den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs (…) Eine eiskalte Schilderung der Schrecken des Stellungs- und Artilleriekrieges, der Verwundungen, des Sterbens – aber erzählt mit der Beiläufigkeit, als ginge es um nichts als ein großes Experiment.“

Ernst Jünger – Kriegstagebuch

Ernst Jünger als Soldat im Ersten Weltkrieg



Der DANDY-CLUB rezensiert Ernst Jünger Kriegstagebuch 1914-1918. Herausgegeben von Helmuth Kiesel. Klett-Cotta Verlag 2010. 654 Seiten, gebunden im Schuber, 32,95 Euro.

Ernst Jünger hatte schon bald vom Krieg die Schnauze voll. Das sinnlose Massenmorden von Gleichaltrigen, 20jährigen Männern, die man nur deshalb zu töten hatte, weil sie einer anderen Nation angehörten, zermürbte den jungen Freiwilligen zeitig.

»Lange schon bin ich im Krieg, schon manchen sah ich fallen, der wert war zu leben«
, schrieb er am 1. Dezember 1915 in seine Notizkladde, die er stets bei sich trug. Und weiter: »Was soll das Morden und immer wieder Morden? Ich fürchte, es wird zu viel vernichtet und es bleiben zu wenige, um wieder aufzubauen. Vorm Kriege dachte ich wie mancher: nieder, zerschlagt das alte Gebäude, das neue wird auf jeden Fall besser. Aber nun – es scheint mir, daß Kultur und alles Große langsam vom Krieg erstickt wird. Der Krieg hat mir doch die Sehnsucht nach den Segnungen des Friedens geweckt.«

Diese ehrliche Selbstspiegelung und Stellungnahme findet sich in dem nun veröffentlichten Kriegstagebuch 1914-1918, das der Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel herausgegeben hat. Das sind die Original-Kladden, insgesamt 15 Notizbüchlein im Brusttaschen-Format, von denen der Frontkämpfer jeweils eines bei sich führte. Stets und immer, egal, ob er sich im Gefecht befand oder ins Lazarett eingeliefert wurde. War eines vollgeschrieben, so ließ er es nach einem Heimaturlaub zu Hause verwahrt. Es ist quasi der Ur-Text des späteren Welterfolges In Stahlgewittern.

Doch die sind stilisiert, geschliffen zu heroischer Prosa, in der Gefühlswallungen wie die obige gestrichen sind. Die literarisch bedeutende Herausgabe des Originaltextes erlaubt nun jedermann, sich ein Bild zu machen: Was fühlte Jünger kurz nach dem Geschehnis? Und was hat er (in den verschiedenen Fassungen) der Stahlgewitter daraus geformt?

In seinen emotional authentischen Original-Aufzeichnungen verzweifelte Leutnant Jünger daran, dem schon damals von ihm geliebten Frankreich wohl nie wieder frei begegnen zu können:

»Und ich werde die Reise nach Paris und Versailles nicht machen können, mich nicht freuen können im Lande des Weins und der Freude, denn zwischen mir und Euch steht eine Wand, fließt ein Strom von Blut, von Blut vielleicht unnütz vergossen, um Millionen Mütter in Gram und Elend zu stürzen.«
Für solche Gefühle war in den Stahlgewittern kein Platz mehr. Schließlich hatte es den Versailler Vertrag gegeben, und Nationalisten, wie Jünger nach dem Ersten Weltkrieg einer wurde, sahen darin eine ungerechte Schmach für Deutschland.

Die Original-Aufzeichnungen mit dem später Veröffentlichten vergleichen zu können, wird nicht jeden interessieren. Werk und Person Ernst Jüngers stehen aber in stetig wachsendem Interesse. Das erste Buch Jüngers, In Stahlgewittern, wird jetzt in der 46. Auflage von 2008 ausgeliefert. Es ist in unzählige Sprachen übersetzt worden. Der französische Schriftsteller André Gide, nicht im Verdacht blind vor Nationalismus zu sein, schrieb am 1. Dezember 1942 in sein Tagebuch: »Das Buch von Ernst Jünger über den Krieg von 14 ist unbestreitbar das schönste Kriegsbuch, das ich gelesen habe.« Bemerkenswert ist, dass Gide keine bereinigte Fassung gelesen hatte, sondern eine Übersetzung von 1930. In der waren alle nationalistischen Passagen noch enthalten.

Der Band enthält neben etwa 450 Seiten der originalen Kriegstagebücher mit über 100 Seiten Anmerkungen einen langen Beitrag von Helmuth Kiesel über Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg – Überblick und Dokumentation. Der Jünger-Biograph gibt eine gründliche Einbettung der historischen Situation, der gesellschaftlichen Verhältnisse und von Jüngers Motivation. Wer jedoch gerade über Letzteres mehr erfahren möchte, wer in der Substanz ein Gefühl für das Empfinden und Denken Jüngers bekommen möchte, dem sei zur ergänzenden Lektüre die Biographie von Heimo Schwilk empfohlen.

Besonders süffisant sind die Hinweise zur Stilisierung des Rohtextes vom Tagebuchschreiber Jünger an den zukünftigen Buch-Autoren Jünger:

»Edition des Tagebuches I.
Die Sprache ist noch vielfach zu trocken, muss durch Dialoge aufgefrischt werden.
An Schilderung wichtiger Abschnitte etc. immer ausgeruht herangehen, die 2-3 ersten Morgenstunden ausnutzen.
Das Tagebuch in seiner ersten Form ist nur ein Rahmen, in den Schilderungen der Landschaft, der jeweiligen Stimmung der Truppe, der Verpflegung, der Unterbringung, der taktischen Vorübungen u. s. w. eingeschoben werden müssen.«

Jünger war bemüht, das Erlebte so zeitnah wie möglich zu notieren. Manchmal schrieb er es in feuerfreien Minuten auf; manchmal ging es erst am Abend. Der spätere Schriftsteller resümierte – die eigene Grenze des Behaltbaren reflektierend – am Schluss der Aufzeichnungen:

»Es ist merkwürdig, wie rasch sich die Eindrücke verwischen, wie leicht sie schon nach einigen Tagen eine andere Färbung annehmen. Angst, Schwäche und Kleinmut hat man schon am ersten Ruheabend vergessen, wenn man den Kameraden beim Becher seine Erlebnisse berichtet. Unmerklich stempelt man sich zum Helden.«

Das Portraitphoto als Marketing

Felix Nadar, Charles Baudelaire (um 1856)


In seiner umfangreichen Studie untersucht 
Matthias Bickenbach
Das Autorenfoto in der Medienrevolution. Wilehlem Fink Verlag, München 2010, 430 Seiten mit zahlrechen Abbildungen, 49,90 Euro.

Um 1842 existierte noch kein allgemein bekanntes Bild vom Schriftsteller Charles Baudelaire. Die Photographie war gerade erst erfunden worden und steckte noch in den Kinderschuhen. Das Bild, was man in Paris von Baudelaire hatte, ergab sich aus seinen Dichtungen, durch Gerüchte und Erzählungen.

Sein späterer Freund, der Photograph Felix Nadar, beschrieb viele Jahre später die erste Begegnung mit dem legendenumwitterten Bohèmien: »Plötzlich stockte unser Gespräch beim Anblick einer seltsamen, geisterhaften Gestalt. (…) Wir sahen einen jungen Mann von mittlerer Größe und guter Figur, bis auf einen rotbraunen Schal, ganz in Schwarz. Sein Rock war tadellos geschnitten, mit einem enormen Schalkragen, aus dem sich der Kopf erhob wie ein Bukett aus seiner Umhüllung (…) In seiner Hand, die in einem hellrosafarbenen – ich wiederhole: hellrosafarbenen – Handschuh steckte, trug er den Hut, der die Überfülle des gelockten, tiefschwarzen Haares, das ihm auf die Schulter fiel, entbehrlich machte – eine Mähne wie ein Wasserfall. So sollten wir ihm also begegnen, dieser sehnlich erwarteten Gestalt, dieser erhabensten Attraktion.«

Die Anwesenden waren nicht nur über die Erscheinung Baudelaires als solcher verwundert. Vielmehr setzte sie der Unterschied in Erstaunen zu dem Ruf, den der Dichter hatte: Aufgrund seiner provokanten Texte erwartete man einen ungepflegten, übel riechenden und heruntergekommenen Mann außerhalb der Gesellschaft.

Matthias Bickenbach untersucht in seiner detaillierten Studie Das Autorenfoto in der Medienrevolution – Anachronie einer Norm das Autorenfoto nur als Beispiel. Er will die allgemeine Ansicht in Frage stellen, die Photographie als Medium hätte eine Revolution zur Folge gehabt. Eine Revolution vor allem in der Wahrnehmung und der Betrachtung von Bildern. Seine Habilitationsschrift nutzt das Autorenphoto, um die These zu belegen, die heute allgemeingültige Annahme von der Revolution jeweils neuer Medien sei in Wahrheit stets eine Evolution.

Das Beispiel Baudelaires ist deshalb so interessant wie aufschlussreich, weil der die Photographie tiefgründig nutzte und in sein Gesamtkunstwerk einbaute. Zu diesem Gesamtkunstwerk gehörten über seine Dichtung hinaus auch sein Auftreten und seine Vermarktung. Baudelaire gilt heute unbestritten als einer der größten Erneuerer der Literatur im 19. Jahrhundert. Sein Rang liegt wohl über dem von Balzac oder Hugo. Zu Lebzeiten war er allerdings finanziell nicht sonderlich erfolgreich. So nutzte er die neu aufkommende Photographie als wichtiges Mittel der Selbstinszenierung. Er ließ von Felix Nadar gleich ganze Serien von Portraitphotos von sich anfertigen und plante sogar, ein Bild als Frontispiz sämtlicher Bücher zu nehmen. Theoretisch lehnte Baudelaire die Photographie ab, weil sie einen falschen Anschein von Objektivität und Bildlichkeit vermittle. Aber genau deshalb wusste er sie auch zu nutzen.


Felix Nadar, Charles Baudelaire (um 1855)



Bickenbach interpretiert das erste heute noch bekannte Photo Nadars: Baudelaire sitzt lässig zurückgelehnt; sein schwarzer langer Mantel betont die Bohème-Zugehörigkeit. Aber vor allem betont der Autor die versteckten Hände Baudelaires: »Indem Baudelaire seien Hände versteckt, entzieht er sie nicht nur der Sichtbarkeit. Die Hand des Dichters ist immerhin selbst das Medium seiner Handschrift und damit ein symbolisches Zeichen, das in der Tradition der Bilder von Gelehrten und Schriftautoritäten fest etabliert ist. Die Geste der ‚Hand in der Hosentasche‘ korrespondiert einer Haltung des Autors im Zeitalter seiner Fotografierbarkeit, die der Autorschaft mit einem visuellen Entzug, dem Entzug der schreibenden Hand verbindet.« Bickenbach interpretiert, Baudelaire präsentiere sich hier bewusst nicht in der bisherigen Pose der Großdichter, sondern antibürgerlich. Die Geste der Hände in den Hosentaschen habe »nicht nur politische und soziale, sondern auch literarische Valenz als Habitus einer Distinktion«


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 Felix Nadar, Charles Baudelaire (1855)



Bickenbachs Untersuchung fragt nach der Rolle des photographischen Portraits literarischer Autoren und damit auch nach ihrer Wirkung, nach ihrem Einsatz durch die Autoren selbst und nach weiteren Implikationen, Folgen und häufig ungeprüften Annahmen. Schon lange vor der Photographie gab es plastische Bildnisse von Autoren. Diese dienten schon vor Jahrhunderten dem gleichen Zweck: Man konnte sich buchstäblich ‚ein Bild machen‘, von dem Autoren, den man las. Folgt man den Ausführungen Bickenbachs, gerät die bisherige, ungeprüfte und unterbewusst als feststehend akzeptierte Annahme der Revolution durch das Aufkommen der Photographie und anderer neuer Medien ins Wanken. Vielmehr erhält der interessierte Leser ein Gefühl für den ewigen evolutionären Prozess. Für Zeitgenossen ergeben sich die Veränderungen stets fließend, sei die Geschwindigkeit auch noch so schnell. Umso größer jedoch der zeitliche Abstand der historischen Betrachtung, desto stärker wird die rückblickende Perzeption als ‚Revolution‘.




Rainald Goetz – elfter september 2010

Präludium: Die Buchvorstellung before Rainald Goetz



Eigentlich sollte das Buch ein Roman werden. Ein Roman, der die innere Soziologie der Macht porträtiert: Das Leben, den Alltag und die Charaktere von Politikern und Journalisten im politischen Berlin. Aber Rainald Goetz sah sich nicht in der Lage, das, was er sah, erfuhr, hörte, – ertragen musste, in eine sprachliche Form zu gießen. Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller hatte deswegen sogar schon beschlossen, in den Arztberuf zu wechseln. Schließlich hat er Medizin studiert, und sein Bruder, ebenfalls Arzt, wollte eine Praxis eröffnen, in die Rainald Goetz mit einstgestiegen wäre.

Glücklicherweise hat es sich der Bruder anders überlegt.

So gibt es ein neues Buch von Rainald Goetz. Der Bildband elfter september 2010. Bilder eines Jahrzehnts präsentiert Schwarz-Weiß-Photographien aus den sogenannten Nullerjahren, – also von 2000 bis heute. Dem aktuellen Zeit-Magazin verriet der Schriftsteller, er habe diese Jahre als »extrem düster empfunden, ein Finsternisexzess«. Tatsächlich merkt man diese Grundstimmung den Photos nicht direkt an. Vielmehr vermag das großformatige Buch, das Goetz gestern Abend im Haus des Suhrkamp Verlages in der Berliner Pappelallee vorstellte, auf unterschiedliche Weise gelesen zu werden. So wie es sich Rainald Goetz dachte: »Man nimmt es in die Hand, blättert ein bisschen darin und hat es sofort intuitiv erfasst, hat es drin. Andererseits kann man auch richtig einsteigen und sich sehr darin vertiefen.«


Dicht umringt von Berliner Kultur-Journalisten war Rainald Goetz in gelöster Stimmung



Dass die Präsentation von einem riesigen Medien-Auflauf begleitet wurde, konnte nicht verwundern. Schließlich sehen sich seit den vergangenen Büchern klage und loslabern namhafte Journalisten gezwungen, Goetzens diaristische Literatur weniger aus poetischem Interesse als vielmehr Eitelkeitserwägungen zu studieren: Hat er mich erwähnt, finde ich bei ihm statt? Und wenn ja; positiv oder negativ? Kann ich damit leben? Damit leben können wohl die meisten, sind Sensibilität und Menschlichkeit doch eher etwas für Pfarrer und Sozialarbeiter.

Rainald Goetz nahm diese Gegebenheit in die Inszenierung seiner Buchpräsentation in mehreren Akten auf, indem er die Namen aller in dem Photoband stattfindenden Relativen und Absoluten Personen der Zeitgeschichte – wie auf einem mittelalterlichen Marktplatz – laut vorlas.

Der Photoband enthebt die Gegenwart ein wenig aus ihrer Gegenwärtigkeit, die sie so schwer greifbar sein lässt. Noch immer leben wir ja in diesen aufwühlenden, hektischen Nullerjahren. Noch immer ist Berlin-Mitte, die Heimat von Rainald Goetz, eine einzige laute, stinkende Baustelle. Knappe Bildunterschriften lassen jedwede Differenz zwischen unserem ersten Gedanken beim Betrachten des Bildes – unser Vor-Urteil -, einem Motiv des Photographen und einem eventuellen objektiven Inhalt fragil werden.

Rainald Goetz ist manischer Photograph. Er geht tagelang durch die Stadt namens Wahnsinn und photographiert und photographiert. Für seinen riesigen Fundus musste er sich gerade weitere Billy-Regale zulegen, um überhaupt wieder einen Überblick zu gewinnen. Geprägt hat ihn seine Mutter, eine Berufs-Photographin, mit deren Dunkelkammer er aufwuchs. Der doppelt promovierte Mediziner und Historiker Goetz hängt riesig vergrößerte Zeitungsartikel in seinem Arbeitszimmer auf, um sie vollends auf sich wirken zu lassen. Einige davon hängte er in den Räumen der Präsentation auf.

elfter september ist der vierte Band von Schlucht. In dem ersten Band der Schlucht-Reihe von Rainald Goetz, dem Internet-Tagebuch klage, heißt es: »Unverwischte Bilder, auf denen der Hass nicht das Zerstörte ist, nicht Präzision. Die Trottelwelt trotzdem nicht widerlegen, in ihr auch nicht mehr nicht mitleben, nicht schreckhaft aufflattern, nicht angstlos und nicht unabgehärtet. Nie vergessen wie das geht.«

‚Das Buch zum Film‘.


Das lesenswerte Interview zum neuen Buch im Zeit-Magazin ist online:
http://www.zeit.de/2010/37/Interview-Rainald-Goetz?page=

Rezension von loslabern: http://dandy-club.blogspot.com/2009/11/rainald-goetz-loslabern.html

Rezension von klage:
http://webcritics.de/page/book.php?id=2392

Riesig vergrößerter Zeitungs-Ausschnitt an der Wand


Die Politiker-Elite Deutschlands


Zeitungs-Überschrift im Großformat


Rainald Goetz,  elfter september 2010. Bilder eines Jahrzehnts. Suhrkamp Verlg, Berlin 2010, 224 Seiten, gebunden mit Scutzumschlag, 34,90 Euro.