Ales Steger, Preußenpark. Berliner Skizzen. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2010, Edition Suhrkamp 2569, Broschur, 159 Seiten, 10 Euro.
Okt. 06
Okt. 05
Heimo Schwilk (Hg.), Ernst Jünger – Leben und Werk in Bildern und Texten. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010, 336 Seiten, gebunden, mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen, bis zum 31. Januar 2011 Euro 49,95, danach 59,95.
Okt. 04
Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem letzten adeligen Besitzer des Ostrauer Schlosses gibt es ebenso gute Gründe wie für die Veranstaltung eines Konzerts zu seinen Ehren. Hans-Hasso von Veltheim, der das Ostrauer Schloss und das dazu gehörende Land von 1927 an besaß, war kein klassischer Gutsherr mehr. Als Ehrenritter des Johanniter-Ordens hatte er sich zur Wohltätigkeit verpflichtet. Erinnert sei an die umfassende Sanierung des Parks, den er anschließend der Öffentlichkeit zugänglich machte. Darüber hinaus hat Hans-Hasso von Veltheim der Nachwelt in der evangelischen Schlosskirche eine Kapelle im anthroposophischen Stil hinterlassen, die als baugeschichtlich einmalig gelten kann und seit Jahren viele Besucher nach Ostrau lockt. Aus heutiger Sicht besonders zu würdigen ist seine Einladung zum Dialog an jeden, der offenen Herzens und Geistes zu ihm nach Ostrau kam. Die Renovierung des 1927 arg verfallenen Schlosses diente daher nicht allein der adeligen Repräsentation, sondern der Errichtung eines Ortes der interkulturellen Begegnung.
Sich selbst hatte von Veltheim als ein modernes Individuum begriffen, das nicht mehr auf die Sicherheit eines seit Generationen kultivierten Selbstverständnisses vertrauen konnte.
Seine lebenslange Suche nach Identität und Orientierung spiegelt sich in seinen Büchern und unzähligen Briefen. Hier erscheint Hans-Hasso von Veltheim als eine am politischen, weltanschaulichen und religiösen Leben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts außerordentlich beteiligte Person.
Auf Grund der ausgezeichneten Überlieferung können an der Person Hans-Hasso von Veltheims zahlreiche kulturgeschichtliche Fragestellungen erörtert werden. Im Rahmen der Tagung wird es vor allem um sein literarisches Werk, seine Freundschaften zu Leo Baeck und Richard Wilhelm und um die von ihm errichtete Grabaltarkapelle in der evangelischen Schlosskirche gehen. Die Referenten zu dieser ersten Tagung im Ostrauer Schloss reisen aus dem gesamten Bundesgebiet an.
Aus Anlass der Aufnahme des Ostrauer Schlossparks in das Landesprojekt „Gartenträume“ ist ein zusätzlicher Vortrag in das Programm aufgenommen worden. Frau Heike Mortell,
Referentin am Landesamt für Archäologie und Denkmalpflege,
spricht am 16.10.2010 um 17.20 Uhr über die „Geschichte des Schlossparks Ostrau“.
Am Samstagabend findet ein Liederabend im Bibliothekssaal des Ostrauer Schlosses statt. Gabriele Schmidt, Sängerin am Opernhaus Halle, wird mit ihrem Klavierpartner Allan Duarte Manhas Werke von Robert Schumann und Richard Strauß zu Gehör bringen. Als besondere Zugabe stehen Lieder von Hermann Bönicke auf dem Programm, die dieser Hans-Hasso von Veltheims Großmutter, Clara von Veltheim, gewidmet hatte.
Die Vorträge finden am Samstag zwischen 14 und 18 Uhr und am Sonntag zwischen 10.30 und 15 Uhr statt. Das Konzert am Samstag beginnt um 19.30 Uhr.
Die einzelnen Vorträge und das Konzert können unabhängig voneinander und ohne Voranmeldung besucht werden. Für ein kurzes Signal vorab wären wir dennoch dankbar. Am Samstag vor dem Konzert und am Sonntag zwischen den Vorträgen besteht die Möglichkeit zu einem Abend- bzw. Mittagessen. Die Anmeldung zu den Mahlzeiten erbitten wir bis zum 10.10.2010 unter: 0345 / 976 04 17, 0174 / 142 32 39, info@ostrau.de,
www.ostrau.de. Hier finden sie auch das vollständige Programm.
Für Rückfragen steht Ihnen John Palatini, Vorstand der Ostrau-
Gesellschaft und Leiter der Tagung, gern zur Verfügung:
0345 / 171 49 66
0177 / 672 82 00
john.palatini@germanistik.uni-halle.de
Okt. 01
Im Museum Ludwig in Köln hat die Ausstellung
La Bohème
Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts
eröffnet (noch bis zum 9. Januar 2011).
Das Museum schreibt:
„Die Bohème ist die Vorstufe des Künstlerlebens. sie ist die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zum Leichenschauhaus.“
So charakterisiert der französische Autor Henri Murger das Phänomen in seinen 1851 erschienenen Buch Scènes de la Vie de Bohème: ein Durchgangsstadium, das durch Normverstöße in der Lebensführung provoziert und fasziniert. Das Bild vom Künstler als Außenseiter, der im bürgerlichen Zeitalter in romantischer Armut lebt, wurde heiter verklärt und durch Puccinis Oper, die auf Murgers Urtext basiert, vollends popularisiert. Damit wurde der Begriff Boheme zum Synonym für den Künstler des 19. Jahrhunderts, der einem anonymen Markt ausgesetzt und gezwungen war, seine Leistungen zu verkaufen, um zu überleben. Mitten in die Zeit der Entstehung der Boheme-Legende zur Untermauerung künstlerischen Selbstbewusstseins fiel die Erfindung der Fotografie. Wie stark die schillernde Lebenseinstellung der Musiker, Schriftsteller, Maler und auch der Fotografen selbst sich in fotografischen Inszenierungen spiegelt, zeigt diese Ausstellung im Museum Ludwig.
http://www.museenkoeln.de/museum-ludwig/default.asp?s=3140
Museum Ludwig
Heinrich-Böll-Platz
50667 Köln
Öffnungszeiten:
Dienstags bis sonntags (inklusive Feiertage) 10.00 bis 18.00 Uhr
jeden 1. Donnerstag im Monat: 10.00 bis 22.00 Uhr
montags geschlossen
Jeden Sonntag um 15.00 Uhr öffentliche Führungen.
Sep. 29
Umso mehr die Menschen sich auf sich selbst einlassen, desto weniger wird ihr Leben durch ‚Zufälle‘ bestimmt. Albert Hofmann, der im April 2008 mit 102 Jahren verstarb, ist exakt genauso alt geworden, wie sein Freund Ernst Jünger. Beide führten zusammen mehrere Sitzungen durch, in denen sie die Wirkung verschiedener Rauschmittel testeten.
Der Mitarbeiter des schweizerischen Chemiekonzerns Sandoz forschte 1938 nach einer Substanz, die den Kreislauf stimuliert. Hofmann synthetisierte aus Mutterkorn, einem Getreidepilz, das Lysergsäurediethylamid. Im Tierversuch enttäuschte das LSD. Hofmann und Sandoz verloren das Interesse und suchten in andere Richtungen.
Erst fünf Jahre später, am 16. April 1943 wiederholte Hofmann die Synthese von LSD. Dabei stieß er auf die erstaunliche, halluzigene Wirkung der Substanz. – Hofmann muss wohl mit dem LSD in Berührung gekommen sein. Die Wirkung animierte ihn zu einem anschließenden Selbstversuch, um der Wirkung der Droge auf den Grund zu gehen. »Schwindel und Ohnmachtsgefühl wurden zeitweise so stark, daß ich mich nicht mehr aufrechthalten konnte und mich auf ein Sofa hinlegen mußte«, berichtet der Chemiker in seinem nun neu veröffentlichten Buch LSD – mein Sorgenkind. »Meine Umgebung hatte sich nun in beängstigender Weise verwandelt. Alles im Raum drehte sich, und die vertrauten Gegenstände und Möbelstücke nahmen groteske, bedrohliche Formen an.« Hofmann erkannte seine vertraute Nachbarsfrau nicht mehr wieder: »Das war nicht mehr Frau R., sondern eine bösartige, heimtückische Hexe mit einer farbigen Fratze. «
Schlimmer jedoch als alle Veränderungen im Äußeren, nahm der Schweizer die Veränderungen seiner Psyche war: »Alle Anstrengungen meines Willens, den Zerfall der äußeren Welt und die Auflösung meines Ich aufzuhalten, schienen vergeblich. Ein Dämon war in mich eingedrungen und hatte von meinem Körper, von meinen Sinnen und von meiner Seele Besitz ergriffen. Ich sprang auf und schrie, um mich von ihm zu befreien, sank dann aber wieder machtlos auf das Sofa. Die Substanz, mit der ich hatte experimentieren wollen, hatte mich besiegt. Sie war der Dämon, der höhnisch über meinen Willen triumphierte.«
Das zuerst 1979 veröffentlichte Buch ist sowohl Erfahrungsbericht, wie auch eine Art von Forscher-Tagebuch. Hofmann beendet die Mär vom reinen Zufall, das LSD entdeckt zu haben. Er beschreibt, wie Sandoz ihn gezielt auf die Suche schickte. – Auch wenn das Entdecken der berauschenden und Sinn-erweiternden Wirkungen dann ungeplant geschah.
Hofmann sieht sich an mehreren Stellen des Buches veranlasst, vor einem leichtfertigen Umgang mit LSD zu warnen. So will er das Werk keinesfalls verstanden wissen als Aufforderung zum Drogenkonsum, – wovon schon der Titel zeugt.
Dennoch vermag das Buch, die Wirkungen verschiedener Rauschmittel ohne Verklärung zu beschreiben. 1962 nimmt Hofmann zusammen mit Ernst Jünger in dessen Wilflinger Oberförsterei Psilocybin ein, um den Unterschied zu LSD am eigenen Leib zu erfahren. Vorausgegangen waren dem ‚Psilocybinsymposion‘ umfangreiche wissenschaftliche und literarische Lektüren. »Je tiefer ich in den Rausch versank, desto fremdartiger wurde alles. Ich selbst wurde mir fremd. Unheimlich, kalt, sinnlos, menschenleer waren die in einem toten Licht daliegenden Stätten, die ich durchschritt, wenn ich die Augen schloß. Sinnentleert, gespenstisch erschien mir auch die Umgebung, wenn ich die Augen öffnete und versuchte, mich an die äußere Welt zu klammern. Die völlige Leere drohte mich ins absolute Nichts hinabzuziehen.«
So kann es nicht verwundern, wie Albert Hofmanns noch heute erstaunliches Buch endet: Mit einem Aufruf, der Mensch möge in Einklang mit der Natur leben und nicht gegen sie. Heutige Umweltschutz-Maßnahmen blieben an der Oberfläche, weil es ihnen an der tieferen Einsicht mangele. »Heilung würde heißen: existentielles Erleben einer das Ich einschließenden tieferen Wirklichkeit.«
DANDY-CLUB-Empfehlung! (Nicht die Droge, – das Buch!!!)
Sep. 28
Romantisch war die Anfahrt für den Konvoi der Pferdeschlitten durch den verschneiten Berliner Grunewald. Es war schon Abend, als die 15 Mitglieder der Hofgesellschaft Wilhelms II. 1891 am Jagdschloss Grunewald ankamen. Unter ihnen waren Charlotte von Sachsen-Meinigen, eine Schwester des Kaisers und ein Schwager, Herzog Ernst-Günther von Schleswig-Holstein.
Man hatte sich allerdings nicht verabredet, um Glühwein einzunehmen. Heute würde man die Veranstaltung titulieren als – Swingerabend. Es ging um nichts anderes als Sex. Sex jeder mit jedem, in allen möglichen Stellungen und Varianten.
Die Frauen haben anfänglich animiert – und dann haben sich die Männer untereinander vergnügt.
Aus diesem für die Beteiligten vergnüglichen Abend wurde anschließend einer der größten Skandale des Kaiserreichs, – der heute in Vergessenheit geraten war. Der Historiker Tobias Bringmann hat darüber geforscht, und der umstrittene Historiker Wolfgang Wippermann nun ein Buch gemacht.
Die Geschichte kam ins Rollen, weil einer der Teilnehmer – oder Teilnehmerinnen – wohl doch nicht ganz so glücklich war. Er oder sie petzte die Geschehnisse des amourösen Abends in allen Einzelheiten in unendlichen Briefen an Mitglieder der höchsten Gesellschaft. In einem der anonymen Schreiben an Wilhelm Graf Hohenau vom Juni 1892 heißt es:
»Stadtbekannt ist, dass Ihre Frau Schwägerin nicht eher ruht, bis sie mit sämmtlichen Prinzen auf du und du und, wenn irgend möglich, in geschlechtliche Berührung gekommen ist. Es ist schier unbegreiflich und eine ganz aparte Art von Tollheit, daß diese sich sonst so zimperlich gebärdende Person sich jedem Prinzen ohne Weiteres an den Hals wirft und, wie diese Herrn theils selbst erzählt haben, ganz unaufgefordert die Röcke hochhebt – schlimmer wie das mannstollste Weib!«
Das Buch schildert einen süffisanten Skandal im untergehenden Kaiserreich Wilhelm II. So spannend das Thema – auch für weitere historische Entwicklungen und Veränderungen – so schwer bis unerträglich ist das Buch stellenweise zu lesen. Der Leser fragt sich, warum Wippermann gleich zu Beginn hasserfüllt gegen die Begriffe von Ehre und Treue polemisiert und sie ausschließlich mit Hitlers SS verbindet. Das Erstaunen nimmt zu, hält der Leser die Lektüre bis zum siebten Kapitel durch. Das heißt »Stahlgewitter« und poltert gegen Ernst Jünger. Weil Wippermann keine eigenen Argumente hat, muss er Klaus Theweleit okkupieren, dessen Thesen zu ‚Männerphantasien‘ er referiert. Jünger dient ihm als Exempel für »atavistische und faschistische Männlichkeit«. Gott sei Dank ist der Betrieb da inzwischen ein Stück weiter gekommen, auch wenn es Professor Wippermann noch nicht gemerkt hat.
Sep. 24
Sep. 24
Ernst Jünger hatte schon bald vom Krieg die Schnauze voll. Das sinnlose Massenmorden von Gleichaltrigen, 20jährigen Männern, die man nur deshalb zu töten hatte, weil sie einer anderen Nation angehörten, zermürbte den jungen Freiwilligen zeitig.
»Lange schon bin ich im Krieg, schon manchen sah ich fallen, der wert war zu leben«, schrieb er am 1. Dezember 1915 in seine Notizkladde, die er stets bei sich trug. Und weiter: »Was soll das Morden und immer wieder Morden? Ich fürchte, es wird zu viel vernichtet und es bleiben zu wenige, um wieder aufzubauen. Vorm Kriege dachte ich wie mancher: nieder, zerschlagt das alte Gebäude, das neue wird auf jeden Fall besser. Aber nun – es scheint mir, daß Kultur und alles Große langsam vom Krieg erstickt wird. Der Krieg hat mir doch die Sehnsucht nach den Segnungen des Friedens geweckt.«
Diese ehrliche Selbstspiegelung und Stellungnahme findet sich in dem nun veröffentlichten Kriegstagebuch 1914-1918, das der Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel herausgegeben hat. Das sind die Original-Kladden, insgesamt 15 Notizbüchlein im Brusttaschen-Format, von denen der Frontkämpfer jeweils eines bei sich führte. Stets und immer, egal, ob er sich im Gefecht befand oder ins Lazarett eingeliefert wurde. War eines vollgeschrieben, so ließ er es nach einem Heimaturlaub zu Hause verwahrt. Es ist quasi der Ur-Text des späteren Welterfolges In Stahlgewittern.
Doch die sind stilisiert, geschliffen zu heroischer Prosa, in der Gefühlswallungen wie die obige gestrichen sind. Die literarisch bedeutende Herausgabe des Originaltextes erlaubt nun jedermann, sich ein Bild zu machen: Was fühlte Jünger kurz nach dem Geschehnis? Und was hat er (in den verschiedenen Fassungen) der Stahlgewitter daraus geformt?
In seinen emotional authentischen Original-Aufzeichnungen verzweifelte Leutnant Jünger daran, dem schon damals von ihm geliebten Frankreich wohl nie wieder frei begegnen zu können:
»Und ich werde die Reise nach Paris und Versailles nicht machen können, mich nicht freuen können im Lande des Weins und der Freude, denn zwischen mir und Euch steht eine Wand, fließt ein Strom von Blut, von Blut vielleicht unnütz vergossen, um Millionen Mütter in Gram und Elend zu stürzen.«
Für solche Gefühle war in den Stahlgewittern kein Platz mehr. Schließlich hatte es den Versailler Vertrag gegeben, und Nationalisten, wie Jünger nach dem Ersten Weltkrieg einer wurde, sahen darin eine ungerechte Schmach für Deutschland.
Die Original-Aufzeichnungen mit dem später Veröffentlichten vergleichen zu können, wird nicht jeden interessieren. Werk und Person Ernst Jüngers stehen aber in stetig wachsendem Interesse. Das erste Buch Jüngers, In Stahlgewittern, wird jetzt in der 46. Auflage von 2008 ausgeliefert. Es ist in unzählige Sprachen übersetzt worden. Der französische Schriftsteller André Gide, nicht im Verdacht blind vor Nationalismus zu sein, schrieb am 1. Dezember 1942 in sein Tagebuch: »Das Buch von Ernst Jünger über den Krieg von 14 ist unbestreitbar das schönste Kriegsbuch, das ich gelesen habe.« Bemerkenswert ist, dass Gide keine bereinigte Fassung gelesen hatte, sondern eine Übersetzung von 1930. In der waren alle nationalistischen Passagen noch enthalten.
Der Band enthält neben etwa 450 Seiten der originalen Kriegstagebücher mit über 100 Seiten Anmerkungen einen langen Beitrag von Helmuth Kiesel über Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg – Überblick und Dokumentation. Der Jünger-Biograph gibt eine gründliche Einbettung der historischen Situation, der gesellschaftlichen Verhältnisse und von Jüngers Motivation. Wer jedoch gerade über Letzteres mehr erfahren möchte, wer in der Substanz ein Gefühl für das Empfinden und Denken Jüngers bekommen möchte, dem sei zur ergänzenden Lektüre die Biographie von Heimo Schwilk empfohlen.
Besonders süffisant sind die Hinweise zur Stilisierung des Rohtextes vom Tagebuchschreiber Jünger an den zukünftigen Buch-Autoren Jünger:
»Edition des Tagebuches I.
Die Sprache ist noch vielfach zu trocken, muss durch Dialoge aufgefrischt werden.
An Schilderung wichtiger Abschnitte etc. immer ausgeruht herangehen, die 2-3 ersten Morgenstunden ausnutzen.
Das Tagebuch in seiner ersten Form ist nur ein Rahmen, in den Schilderungen der Landschaft, der jeweiligen Stimmung der Truppe, der Verpflegung, der Unterbringung, der taktischen Vorübungen u. s. w. eingeschoben werden müssen.«
Jünger war bemüht, das Erlebte so zeitnah wie möglich zu notieren. Manchmal schrieb er es in feuerfreien Minuten auf; manchmal ging es erst am Abend. Der spätere Schriftsteller resümierte – die eigene Grenze des Behaltbaren reflektierend – am Schluss der Aufzeichnungen:
»Es ist merkwürdig, wie rasch sich die Eindrücke verwischen, wie leicht sie schon nach einigen Tagen eine andere Färbung annehmen. Angst, Schwäche und Kleinmut hat man schon am ersten Ruheabend vergessen, wenn man den Kameraden beim Becher seine Erlebnisse berichtet. Unmerklich stempelt man sich zum Helden.«
Sep. 13
Um 1842 existierte noch kein allgemein bekanntes Bild vom Schriftsteller Charles Baudelaire. Die Photographie war gerade erst erfunden worden und steckte noch in den Kinderschuhen. Das Bild, was man in Paris von Baudelaire hatte, ergab sich aus seinen Dichtungen, durch Gerüchte und Erzählungen.
Sein späterer Freund, der Photograph Felix Nadar, beschrieb viele Jahre später die erste Begegnung mit dem legendenumwitterten Bohèmien: »Plötzlich stockte unser Gespräch beim Anblick einer seltsamen, geisterhaften Gestalt. (…) Wir sahen einen jungen Mann von mittlerer Größe und guter Figur, bis auf einen rotbraunen Schal, ganz in Schwarz. Sein Rock war tadellos geschnitten, mit einem enormen Schalkragen, aus dem sich der Kopf erhob wie ein Bukett aus seiner Umhüllung (…) In seiner Hand, die in einem hellrosafarbenen – ich wiederhole: hellrosafarbenen – Handschuh steckte, trug er den Hut, der die Überfülle des gelockten, tiefschwarzen Haares, das ihm auf die Schulter fiel, entbehrlich machte – eine Mähne wie ein Wasserfall. So sollten wir ihm also begegnen, dieser sehnlich erwarteten Gestalt, dieser erhabensten Attraktion.«
Die Anwesenden waren nicht nur über die Erscheinung Baudelaires als solcher verwundert. Vielmehr setzte sie der Unterschied in Erstaunen zu dem Ruf, den der Dichter hatte: Aufgrund seiner provokanten Texte erwartete man einen ungepflegten, übel riechenden und heruntergekommenen Mann außerhalb der Gesellschaft.
Matthias Bickenbach untersucht in seiner detaillierten Studie Das Autorenfoto in der Medienrevolution – Anachronie einer Norm das Autorenfoto nur als Beispiel. Er will die allgemeine Ansicht in Frage stellen, die Photographie als Medium hätte eine Revolution zur Folge gehabt. Eine Revolution vor allem in der Wahrnehmung und der Betrachtung von Bildern. Seine Habilitationsschrift nutzt das Autorenphoto, um die These zu belegen, die heute allgemeingültige Annahme von der Revolution jeweils neuer Medien sei in Wahrheit stets eine Evolution.
Das Beispiel Baudelaires ist deshalb so interessant wie aufschlussreich, weil der die Photographie tiefgründig nutzte und in sein Gesamtkunstwerk einbaute. Zu diesem Gesamtkunstwerk gehörten über seine Dichtung hinaus auch sein Auftreten und seine Vermarktung. Baudelaire gilt heute unbestritten als einer der größten Erneuerer der Literatur im 19. Jahrhundert. Sein Rang liegt wohl über dem von Balzac oder Hugo. Zu Lebzeiten war er allerdings finanziell nicht sonderlich erfolgreich. So nutzte er die neu aufkommende Photographie als wichtiges Mittel der Selbstinszenierung. Er ließ von Felix Nadar gleich ganze Serien von Portraitphotos von sich anfertigen und plante sogar, ein Bild als Frontispiz sämtlicher Bücher zu nehmen. Theoretisch lehnte Baudelaire die Photographie ab, weil sie einen falschen Anschein von Objektivität und Bildlichkeit vermittle. Aber genau deshalb wusste er sie auch zu nutzen.
Bickenbachs Untersuchung fragt nach der Rolle des photographischen Portraits literarischer Autoren und damit auch nach ihrer Wirkung, nach ihrem Einsatz durch die Autoren selbst und nach weiteren Implikationen, Folgen und häufig ungeprüften Annahmen. Schon lange vor der Photographie gab es plastische Bildnisse von Autoren. Diese dienten schon vor Jahrhunderten dem gleichen Zweck: Man konnte sich buchstäblich ‚ein Bild machen‘, von dem Autoren, den man las. Folgt man den Ausführungen Bickenbachs, gerät die bisherige, ungeprüfte und unterbewusst als feststehend akzeptierte Annahme der Revolution durch das Aufkommen der Photographie und anderer neuer Medien ins Wanken. Vielmehr erhält der interessierte Leser ein Gefühl für den ewigen evolutionären Prozess. Für Zeitgenossen ergeben sich die Veränderungen stets fließend, sei die Geschwindigkeit auch noch so schnell. Umso größer jedoch der zeitliche Abstand der historischen Betrachtung, desto stärker wird die rückblickende Perzeption als ‚Revolution‘.
Sep. 10
Glücklicherweise hat es sich der Bruder anders überlegt.
So gibt es ein neues Buch von Rainald Goetz. Der Bildband elfter september 2010. Bilder eines Jahrzehnts präsentiert Schwarz-Weiß-Photographien aus den sogenannten Nullerjahren, – also von 2000 bis heute. Dem aktuellen Zeit-Magazin verriet der Schriftsteller, er habe diese Jahre als »extrem düster empfunden, ein Finsternisexzess«. Tatsächlich merkt man diese Grundstimmung den Photos nicht direkt an. Vielmehr vermag das großformatige Buch, das Goetz gestern Abend im Haus des Suhrkamp Verlages in der Berliner Pappelallee vorstellte, auf unterschiedliche Weise gelesen zu werden. So wie es sich Rainald Goetz dachte: »Man nimmt es in die Hand, blättert ein bisschen darin und hat es sofort intuitiv erfasst, hat es drin. Andererseits kann man auch richtig einsteigen und sich sehr darin vertiefen.«
Dass die Präsentation von einem riesigen Medien-Auflauf begleitet wurde, konnte nicht verwundern. Schließlich sehen sich seit den vergangenen Büchern klage und loslabern namhafte Journalisten gezwungen, Goetzens diaristische Literatur weniger aus poetischem Interesse als vielmehr Eitelkeitserwägungen zu studieren: Hat er mich erwähnt, finde ich bei ihm statt? Und wenn ja; positiv oder negativ? Kann ich damit leben? Damit leben können wohl die meisten, sind Sensibilität und Menschlichkeit doch eher etwas für Pfarrer und Sozialarbeiter.
Rainald Goetz nahm diese Gegebenheit in die Inszenierung seiner Buchpräsentation in mehreren Akten auf, indem er die Namen aller in dem Photoband stattfindenden Relativen und Absoluten Personen der Zeitgeschichte – wie auf einem mittelalterlichen Marktplatz – laut vorlas.
Der Photoband enthebt die Gegenwart ein wenig aus ihrer Gegenwärtigkeit, die sie so schwer greifbar sein lässt. Noch immer leben wir ja in diesen aufwühlenden, hektischen Nullerjahren. Noch immer ist Berlin-Mitte, die Heimat von Rainald Goetz, eine einzige laute, stinkende Baustelle. Knappe Bildunterschriften lassen jedwede Differenz zwischen unserem ersten Gedanken beim Betrachten des Bildes – unser Vor-Urteil -, einem Motiv des Photographen und einem eventuellen objektiven Inhalt fragil werden.
Rainald Goetz ist manischer Photograph. Er geht tagelang durch die Stadt namens Wahnsinn und photographiert und photographiert. Für seinen riesigen Fundus musste er sich gerade weitere Billy-Regale zulegen, um überhaupt wieder einen Überblick zu gewinnen. Geprägt hat ihn seine Mutter, eine Berufs-Photographin, mit deren Dunkelkammer er aufwuchs. Der doppelt promovierte Mediziner und Historiker Goetz hängt riesig vergrößerte Zeitungsartikel in seinem Arbeitszimmer auf, um sie vollends auf sich wirken zu lassen. Einige davon hängte er in den Räumen der Präsentation auf.
elfter september ist der vierte Band von Schlucht. In dem ersten Band der Schlucht-Reihe von Rainald Goetz, dem Internet-Tagebuch klage, heißt es: »Unverwischte Bilder, auf denen der Hass nicht das Zerstörte ist, nicht Präzision. Die Trottelwelt trotzdem nicht widerlegen, in ihr auch nicht mehr nicht mitleben, nicht schreckhaft aufflattern, nicht angstlos und nicht unabgehärtet. Nie vergessen wie das geht.«
‚Das Buch zum Film‘.
Rezension von loslabern: http://dandy-club.blogspot.com/2009/11/rainald-goetz-loslabern.html
Rezension von klage:
http://webcritics.de/page/book.php?id=2392