Eine kaiserliche Orgie

Das Jagdschloss Grunewald auf einem Gemälde von Johann Friedrich Nagel, 1788 



Es war ein veritabler Sittenskandal am Ende des 19. Jahrhunderts, der das Kaiserreich zutiefst erschütterte – aber in Vergessenheit geriet.
Der DANDY-CLUB rezensiert  Wolfgang Wippermann, Skandal im Jagdschloss Grunewald, Primus Verlag, Darmstadt 2010, 167 Seiten, Euro 19,90.

Romantisch war die Anfahrt für den Konvoi der Pferdeschlitten durch den verschneiten Berliner Grunewald. Es war schon Abend, als die 15 Mitglieder der Hofgesellschaft Wilhelms II. 1891 am Jagdschloss Grunewald ankamen. Unter ihnen waren Charlotte von Sachsen-Meinigen, eine Schwester des Kaisers und ein Schwager, Herzog Ernst-Günther von Schleswig-Holstein.

Man hatte sich allerdings nicht verabredet, um Glühwein einzunehmen. Heute würde man die Veranstaltung titulieren als – Swingerabend. Es ging um nichts anderes als Sex. Sex jeder mit jedem, in allen möglichen Stellungen und Varianten.

Die Frauen haben anfänglich animiert – und dann haben sich die Männer untereinander vergnügt.

Aus diesem für die Beteiligten vergnüglichen Abend wurde anschließend einer der größten Skandale des Kaiserreichs, – der heute in Vergessenheit geraten war. Der Historiker Tobias Bringmann hat darüber geforscht, und der umstrittene Historiker Wolfgang Wippermann nun ein Buch gemacht.

Die Geschichte kam ins Rollen, weil einer der Teilnehmer – oder Teilnehmerinnen – wohl doch nicht ganz so glücklich war. Er oder sie petzte die Geschehnisse des amourösen Abends in allen Einzelheiten in unendlichen Briefen an Mitglieder der höchsten Gesellschaft. In einem der anonymen Schreiben an Wilhelm Graf Hohenau vom Juni 1892 heißt es:

»Stadtbekannt ist, dass Ihre Frau Schwägerin nicht eher ruht, bis sie mit sämmtlichen Prinzen auf du und du und, wenn irgend möglich, in geschlechtliche Berührung gekommen ist. Es ist schier unbegreiflich und eine ganz aparte Art von Tollheit, daß diese sich sonst so zimperlich gebärdende Person sich jedem Prinzen ohne Weiteres an den Hals wirft und, wie diese Herrn theils selbst erzählt haben, ganz unaufgefordert die Röcke hochhebt – schlimmer wie das mannstollste Weib!«



 Zeremonienmeister Leberecht von Kotze (Photograph unbekannt)



Wilhelm II. sah sich zum Handeln gezwungen und ließ den Zeremonienmeister Leberecht von Kotze verhaften. In mehreren Stufen musste der Kaiser das Recht brechen, um Kotze verhaften lassen und vor ein Militärgericht stellen zu können. Das half aber alles nichts; er war augenscheinlich unschuldig. Kotze kam zu Hilfe, dass die anonymen Briefe weitergingen, als er inhaftiert war. Kotze verlangte nach seiner Rehabilitierung von allen an seiner Verfolgung Beteiligten ein Duell. Jeweils ein Duell, muss man hinzufügen. Die drei Gegner und Kotze einigten sich auf ein sogenanntes Kollektivmandat, was bedeutete, dass sich nur einer der Männer mit dem Zeremonienmeister zu duellieren hatte. Dies Duell fand dann am Ostersamstag (!) des Jahres 1895 in der Nähe des Bahnhofes Halensee statt. Es endete nach dem sage und schreibe achten Kugelwechsel mit einer Verwundung Kotzes. Dem im Krankenhaus liegenden Kotze ließ der Kaiser ein Geschenk senden: ein Osterei.

Das Buch schildert einen süffisanten Skandal im untergehenden Kaiserreich Wilhelm II. So spannend das Thema – auch für weitere historische Entwicklungen und Veränderungen – so schwer bis unerträglich ist das Buch stellenweise zu lesen. Der Leser fragt sich, warum Wippermann gleich zu Beginn hasserfüllt gegen die Begriffe von Ehre und Treue polemisiert und sie ausschließlich mit Hitlers SS verbindet. Das Erstaunen nimmt zu, hält der Leser die Lektüre bis zum siebten Kapitel durch. Das heißt »Stahlgewitter« und poltert gegen Ernst Jünger. Weil Wippermann keine eigenen Argumente hat, muss er Klaus Theweleit okkupieren, dessen Thesen zu ‚Männerphantasien‘ er referiert. Jünger dient ihm als Exempel für »atavistische und faschistische Männlichkeit«. Gott sei Dank ist der Betrieb da inzwischen ein Stück weiter gekommen, auch wenn es Professor Wippermann noch nicht gemerkt hat.



 Das Jagdschloss Grunewald im Jahr 1900