Eugène Vernier

Eugène Vernier, Tania Mallet, Tourettes-sur-Loup, Vogue Juli 1960
© Eugène Vernier/Vogue © The Condé Nast Publications Ltd.

 

 

Vernier – Fashion, Femininity & Form. Edited by Alistair C. Layzell, 220 pages with 115 photographs, Hirmer Publishers 2012, 49,90 Euro.

 

Eugène Vernier war einer der bedeutendsten Mode-Photographen der 1950er- und 1960er-Jahre. Er kreierte einen völlig eigenen Stil. Selbst war er äußerst bescheiden und sah sich eher als Handwerker, der die Aufgabe habe, die Mode möglichst gut zur Geltung zu bringen. Ein ästhetischer Photoband erinnert nun an den großen Photographen.

Der Verleger von Vogue, Condé Nast, war stets auf der Suche nach den besten Photographen seiner Zeit. Dabei war ihm nicht wichtig, ob sie bereits Mode photographiert hatten oder für Zeitschriften gearbeitet. Im Jahr 1953 wurde der Verleger auf Eugène Vernier aufmerksam. Und der anspruchsvolle und kreative Zeitschriftenmacher hatte sich nicht geirrt: ‚Gene‘, wie Vernier von Weggefährten genannt wurde, erzählte dann in einem einzigen Bild jeweils eine ganze Geschichte. Model und Mode zusammen sind eingebettet in eine Umgebung. Hier gehört die Kleidung hin, spürt der Betrachter unterbewusst. Die Kompositionen sind so liebevoll arrangiert, dass sie quasi eigene Kunstwerke ergeben.

Vernier gab von sich selbst nicht gern etwas preis. Eine Mischung aus Anmut und Bescheidenheit. So machte er aus seiner Herkunft ein kleines Geheimnis. Er behauptete, 1920 in Südfrankreich geboren zu sein. Jedoch geht aus verschiedenen Dokumenten hervor, dass er in Biesdorf bei Berlin zur Welt gekommen war und deutsch-polnische Wurzeln hatte. Im Zweiten Weltkrieg tat er Dienst bei der französischen Armee,  wo er über einen Vorgesetzten zur Photographie gelangte. Nach dem Krieg wurde er für zwei Jahre Korrespondent der britischen Nachrichtensendung Pathé News. Alle seine Beiträge sind heute auf der Website von Pathé zu sehen. Zur Mode-Photographie kam Vernier durch seine Ehefrau Mollie, einem Photomodel.

Dieses Buch war überfällig: Noch kurz vor seinem Tod am 21. Dezember 2011 stellte Eugène Vernier 100 seiner besten Photos zusammen. Sie erscheinen nun unter dem Titel Eugène Vernier – fashion, femininity & form im Münchner Hirmer Verlag. Ergänzt werden die eindrucksvollen Mode-Aufnahmen durch verschiedene Text-Beiträge von Weggefährten, die die herausragende Rolle des Photographen erläutern. Eine reich bebilderte Biographie von Allistair C. Layzell lässt Leben und Werk von Vernier anschaulich werden. Alle Texte sind in Englisch.

Dass Vernier einen völlig anderen Zugang zur Mode-Photographie hatte, davon ist Tania Mallet, ein Model, mit dem er häufig zusammenarbeitete, überzeugt. Bekannt wurde sie als Bond-Girl in dem Film Goldfinger von 1964:
»Er verband die Photoreportage mit der Mode, und so entstand ein neuer Look. Er nahm nicht nur die Kleider auf, er photographierte das Mädchen, das die Kleider trug, und sie selbst, wie sie mit ihrer Umgebung in Verbindung trat. Das Model stand nicht mehr in einer Pose vor einem Hintergrund, es wurde vielmehr selbst Teil der Szenerie.«

Der ästhetische Photo-Band zeigt bedeutende Schwarz-Weiß-Aufnahmen für die britische Vogue aus den Jahren 1954 bis 1967. Ergänzt werden sie durch einige späte Farbphotos ab dem Ende der 1960er-Jahre. Sind diese in der originalen Erstveröffentlichung längst vergilbt, so kann der an der Mode(-Photographie) Interessierte sie sich nun auf 170-Gramm-Papier wieder anschauen und genießen. Die profunden Text-Beiträge machen das Buch auch für Mitarbeiter der Modebranche interessant.

Matthias Pierre Lubinsky




Marcel Proust in Bildern und Dokumenten

Marcel Proust Sein Leben in Bildern und Dokumenten: Cover des opulenten Bildbandes

 


Marcel Proust – Sein Leben in Bildern und Dokumenten. Hrsg. von Patricia Mante-Proust. Texte von Mireille Naturel, Edition Olms Zürich 2012, 192 Seiten mit etwa 350 Photos, gebunden mit Schutzumschlag, 49,95 Euro.

 

Ziemlich genau vor zehn Jahren, im Dezember 2002, kündigte TV-Entertainer Harald Schmidt an, über Weihnachten Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust lesen zu wollen. Doch damit nicht genug: Er wollte danach den Romanzyklus in seiner Harald Schmidt-Show mit Playmobil-Figuren nachstellen. Das war Versprechen und Drohung zugleich. Jeder kennt den Titel – keiner hat ihn gelesen, könnte man spöttisch das Elend der hohen Kunst zusammenfassen.

A la recherche du temps perdu, wie der französische Originaltitel lautet, ist die ungeheure Anstrengung eines kompromisslosen Kunstwillens, die sucht, die verrinnende Lebenszeit mittels der Kraft von Erinnerung und literarischer Darstellung festzuhalten. Einschließlich von Vorbereitungen arbeitete Proust an dem Mammutwerk von 1908 bis 1922, seinem Todesjahr. Furchteinflößend wie sein Werk, so unnahbar scheint beinahe die Person von Marcel Proust.

Zum 90. Todestag am 18. November 2012 erscheint eine groß angelegte Bildbiographie: Marcel Proust – Sein Leben in Bildern und Dokumenten. Herausgegeben wurde der riesige Band von Patricia Mante-Proust, einer Urgroßnichte des Schriftstellers, die für die Familie den Nachlass des berühmten Vorfahren betreut. In ihrem Vorwort zu dem reich bebilderten Prachtbuch schreibt sie: »In vielen Biographien über Marcel Proust (…) wird das Bild eines Pariser Dandys gezeichnet, der, mütterlicherseits jüdischer Abstammung, von labiler Gesundheit war, latent neurotisch – und der kinderlos starb.« Die attraktive Nachfahrin öffnet das Familienarchiv und zeigt Photos beispielsweise vom berühmten Proust-Portrait von Jacques-Émile Blanche: In der Wohnung von Suzy Monte-Proust Mitte der 1960er Jahre und am Hochzeitstag ihrer eigenen Eltern 1972, wo sie sich vor dem einzigen Ölportrait des berühmten Vorfahren zu positionieren hatten.

Der Bildband präsentiert Marcel Proust über das bisher Bekannte hinaus. Dankenswerterweise werden nicht bereits veröffentlichte Dokumente zum Zigstenmal wiederveröffentlicht. Stattdessen geht der Folioband einen ungewöhnlichen Weg: In sechs Kapiteln werden spezielle Facetten von Marcel Prousts Leben und Schaffen herauskristallisiert. Es werden einzelne Personen, zu denen Proust eine enge Beziehung hatte in ihrer Bedeutung für den Schriftsteller beleuchtet ebenso wie spezifische Orte. Im ersten Kapitel »Kaleidoskop eines Lebens« beschreibt die Autorin Mireille Naturel die berühmte Treppe im Haus seiner Tante Léonie, die ,wie so viele Anker im Leben von Proust, in seinen Epochenroman Einzug gefunden hat: »(…) Und ich mußte ohne Wegzehrung in mein Zimmer. Widerwillig stieg ich Stufe und Stufe hinauf, wider meinen Willen; mein Herz drängte zurück zu meiner Mutter, weil sie ihm nicht durch ihren Kuß die Erlaubnis gegeben hatte, mir zu folgen. Diese verhaßte Treppe, die ich immer so traurig hinaufschlich, verströmte einen Firnisgeruch, der meinen allabendlichen Kummer irgendwie in sich aufgenommen und festgeschrieben hatte und ihn vielleicht noch grausamer auf meine empfindsame Seele wirken ließ, da mein Verstand diesem olfaktorischen Reiz nichts entgegenzusetzen hatte.«

Nadar, Portrait von Marcel Proust am 24. März 1887



Die Gestaltung des ungewöhnlich großzügigen Buches ist dem mondänen Anspruch Prousts angemessen: Das Format überschreitet das übliche Folio. Dadurch können die Photos ihre volle Wirkung entfalten. Landschaftsbilder kommen zur Geltung, Portraits zeigen ihre volle Präsenz, ohne dass der Betrachter näher ans Buch rücken muss. Die listenartigen Beurteilungen der Schulklasse aus dem Jahr 1882/83, in die Marcel ging, werden in der Originalgröße dokumentiert.

Die üppige graphische Gestaltung des gewichtigen Bildbandes sollte nicht über den ebenso anspruchsvollen Text von Mireille Naturel hinwegtäuschen: Die Literaturwissenschaftlerin, die an der Universität Sorbonne Nouvelle lehrt, verfasste zu den Photos, Portraits und Dokumenten fulminant-informative biographische Skizzen. Ihnen gelingt insgesamt eine gleichsam respektvolle wie tiefgehende Annäherung an diesen extrem eigenbrötlerischen und skurrilen Dokumentaristen seiner Zeit.

Der opulente Band ist eine würdige Hommage an den bedeutenden Dandy Marcel Proust, an den geistreichen Chronisten des Fin-de-Siècle.

DANDY-CLUB-Empfehlung! Für alle Verehrer von Marcel Proust: definitely Must-Have!

Matthias Pierre Lubinsky



Deutscher Fotobuchpreis 2013

Wilhelm Schürmann, Mietshaus, Station, 1979-1981



Heute Abend, 20.00 Uhr gibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt, welche der ausgezeichneten Photobücher den Preis in ‚Gold‘ und welche in ‚Silber‘ erhalten. Der DANDY-CLUB gratuliert allen Verlagen, Photographen, Buchgestaltern und Beteiligten herzlich!



Ausgezeichnet mit dem Deutschen Fotobuchpreis 2013 werden die folgenden Bücher:

 

Siegertitel aus der Kategorie Fotobildbände

Niggli Verlag: Out of Focus. Lochkameras und ihre Bilder
Hrsg.: Musée suisse de l’appareil photographique Vevey.
Edition Braus: Herzau. Moscow Moskau Street
Hatje Cantz Verlag: Wilhelm Schürmann. Wegweiser zum Glück. Bilder einer Straße 1979-1981
Hatje Cantz Verlag: Poppy. Trails of Afghan Heroin
HO-i GmbH: Michael Schnabel 2001-2010
Kehrer Verlag: Gärtners Reise
Kehrer Verlag: Hier weit entfernt. Fotografien aus den Jahren 1964-2011
Kehrer Verlag: Der Tod kommt später, vielleicht
Kehrer Verlag: Einheit, Arbeit, Wachsamkeit. Die DDR in Mosambik
Prestel Verlag: Viviane Sassen. Parasomnia
Steidl: Mikhael Subotzky Retinal Shift
Steidl/Edition Folkwang: arbeit/work
Steidl: Darkroom
Steidl: Alber Elbaz – LANVIN



Siegertitel aus der Kategorie Fotogeschichte/Fototheorie

Gestalten – Die Gestalten Verlag GmbH & Co. KG: NOSTALGIA. Das Russland von Zar
Nikolaus II.
In Farbfotografien von Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski
Hatje Cantz Verlag: Japanese Dream
Kerber Verlag: Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR
1949-1989
Hatje Cantz: Berlin, Fruchtstraße am 27. März 1952
Steidl: Documenting Science
Steidl: Autopsie. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945, Band 1



Siegertitel aus der Kategorie Fotolehrbücher

fotoforum-Verlag: Audiovisuelle Shows gestalten und präsentieren.
Das HDAV-Buch für die Praxis
Pearson: Sketching Light. Über die Möglichkeit der Blitzfotografie



Paris Photo

Cathleen Naundorf, Secret Times (Grand Palais I), Chanel Haute Couture,
Grand Palais, Paris 2012
© Courtesy of Bernheimer Fine Art Photography

 

 

Zwischen 15. und 18. November 2012 findet die Paris Photo statt, eine der wichtigsten Messen für zeitgenössische Photographie weltweit. 151 Aussteller präsentieren im Grand Palais über 1.000 Phot-Künstler.

Bedeutende Galerien sind unter anderen:  Edwynn Houk Gallery New York, Michael Hoppen Gallery, London, Bernheimer Fine Art Photography, München, Christophe Guye Gallery, Zürich, Camera Work, Berlin und Hamiltons, London.

Die Verkaufs-Messe geht täglich bis 20.00 Uhr.

Parisphoto

 

Gunter Sachs – in memoriam

TOAST, Ata Bozaci, Porträt von Gunter Sachs, 2007,
© Ata Bozaci „Toast“ 2012

 

Am 14. November 2012 wäre der Kunst-Kenner, -Sammler, Photograph, Unternehmer und bedeutende Mäzen Gunter Sachs 80 Jahre alt geworden. Im Mai 2011 schied er für Freunde und Bekannte völlig unerwartet aus dem Leben. Der DANDY-CLUB erinnert aus diesem Anlass noch einmal an die Ausstellung von Werken aus der Sammlung Gunter Sachs, die zur Zeit in der Villa Stuck in München läuft.

Die Sammlung Gunter Sachs in der Villa Stuck.

 

Sotheby’s Paris Herbstauktion

LOT 59, Magnum
Magnum Nudes Portfolio, 2012
Estimate €100,000 – 200,000
(Illustration: Werner Bischof, Switzerland, 1941)

 

 

Sotheby’s Paris bietet bei der Herbstauktion am 16. November 2012 bedsondere Stücke aus der Geschichte der Photography von ihrem Beginn an. Darunter so große Namen wie Man Ray oder André Kertèsz aus dessen früher Paris-Zeit.

Ein exklusives Portfolio wurde zusammengestellt von der Agentur Magnum aus Anlass von deren 65-jährigem Bestehen (Bild).

Die Vorbesichtigung ist möglich zwischen 13. und 15. November 2012.

Nähere Informationen bei Sotheby’s Paris.

Auction Photographies


Paris | 16 November 2012 | 4:30 PM

Exhibition in Paris
Tue, 13 Nov 12 | 10:00 AM – 6:00 PM
Wed, 14 Nov 12 | 10:00 AM – 6:00 PM
Thu, 15 Nov 12 | 10:00 AM – 6:00 PM

Sotheby’s Paris

76 rue du Faubourg Saint Honoré, Paris 8e


Mythos Atelier

Frédéric Bazille, Das Atelier von Bazille, 1870
Vermächtnis Marc Bazille 1924
© Musée d’Orsay, Paris

 

 

Mythos Atelier. Von Spitzweg bis Picasso, von Giacometti bis Nauman.
Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart noch bis 10. Februar 2013.
Katalog hrsg. von Ina Conzen, Hirmer Verlag, München 2012, 280 Seiten, 235 Abbildungen, 45 Euro.


Nachdem der französische Schriftsteller Jean Genet den Künstler Alberto Giacometti in dessen Atelier besucht hatte, schrieb er das Buch Das Atelier von Alberto Giacometti, das 1958 erschien. Es ist eine In-Beziehung-Setzung des Künstlers mit dem Raum, in dem er seine Kunst schafft. Genet schreibt: »Diese Fähigkeit, ein Ding zu isolieren und ihm seine eigene, seine einzigartige Bedeutung einzugeben, ist nur möglich, wenn der Betrachter taub wird gegen die Geschichte. Er muss eine außerordentliche Anstrengung machen, um sich von jeglicher Geschichte zu befreien, so dass er nicht zu einer Art ewigen Gegenwart wird, sondern eher zu einem Schwindel erregenden ununterbrochenen Rennen von einer Vergangenheit zu einer Zukunft, einem Schillern von einem Extrem zum anderen, das jedes Ausruhen verhindert.«

Eine großangelegte Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart widmet sich umfassend dem Thema: Mythos Atelier. Von Spitzweg bis Picasso, von Giacometti bis Naumann (noch bis 10. Februar 2013). Mit einer Ausstellungsfläche von 2.500 qm ist es eine der größten Sonderschauen in der Geschichte der Staatsgalerie Stuttgart.

Zu sehen sind verschiedene Ateliersituationen vom 19. Jahrhundert bis heute. Über 70 Künstler,  185 Exponate, darunter 108 hochrangige Leihgaben aus international bedeutenden Museen und Sammlungen, umfasst die »Große Landesausstellung Baden-Württemberg 2012«. Die Darstellung ihres Ateliers ist für Künstler eine Präsentation ihrer Ästhetik und ihres Schaffens und somit stets auch Programmbild.

Gezeigt werden die unterschiedlichen Medien Malerei, Photographie, Video und Installation von der Romantik bis in die Gegenwart. Im frühen 19. Jahrhundert wird das Atelier als Ort künstlerischer Schöpfung zu einem eigenen, zu einem zentralen Thema in der Bild-Kunst. In der Romantik symbolisiert die Atelier-Darstellung geistige Einhalt und Kontemplation. Caspar David Friedrich ließ sich 1811 gleich einem Mönch in seiner Klause portraitieren von Georg Friedrich Kersting: Ein karger Raum, nur mit einem kleinen Tisch für die Maluntensilien und der Staffelei; der Künstler ohne jedwede Ablenkung voll konzentriert auf sein Schaffen. Für andere Maler der Zeit steht das Atelier  als Zufluchtsort gesellschaftlich geächteter Kunst. Aber auch als prunkvoller Repräsentationsraum für Malerfürsten wie Hans Makart dient es und erfährt damit eine kultische Aufwertung.

In der Klassischen Moderne erfährt das Thema des Künstlerateliers vielleicht seine wichtigste Ausprägung. Zentrale Atelierbilder des frühen 20. Jahrhunderts wie das Gemälde Atelier des Künstlers am Brandenburger Tor in Berlin (1902) von Max Liebermann zeugen von einem neuen Selbstbewusstsein von Künstlern, deren Person und Schaffen in der Öffentlichkeit kritisch beäugt werden. Sie leiten über zu Schlüsselwerken der Klassischen Moderne von Pablo Picasso, Henri Matisse, René Magritte, Ernst Ludwig Kirchner, Gabriele Münter, Giorgio de Chirico oder Georges Braque, die heute wiederum das allgemeine Bewusstsein ausmachen. Eine eigene Rolle zu spielen scheint Alberto Giacometti, dessen Werke im Atelier, wo sie erschaffen worden sind, gleichsam zu Hause wirken, eingebettet, geschützt. Hier und nirgendwo sonst scheinen sie hin zu gehören. Nicht zufällig sind die Photos von Giacomettis Atelier die eindrücklichsten in den Katalogen seiner Ausstellungen.
Er selbst wusste dies scheinbar genau, denn er verstand es, sich gegenüber ausgewählten Photographen zu inszenieren, wie überliefert ist. In der Ausstellung ist dem Schweizer Künstler ein eigener Raum gewidmet mit Photographien, Skulpturen, Gemälden und originalen Atelierwandfragmenten.

Im Ausstellungs-Katalog beschreibt Véronique Wiesinger den Schöpfer Giacometti und sein Atelier in einem informativen Beitrag. Der Katalog dokumentiert beinahe alle Stücke der großen Ausstellung. Die Textbeiträge lassen den Folioband zu einem Handbuch zum Thema werden. Die Kuratorin Ina Conzen führt profund ins Thema ein und macht die Bedeutung des Ateliers für den Künstler deutlich: »Wissen Sie, was es mit dem Atelier eines Malers auf sich hat, bürgerlicher Leser?«, fragte Théophile Gautier 1831: »Es ist eine Welt, ein eigenes Universum für sich, das in nichts unserer Welt gleicht; – eine märchenhafte Welt, wo alles zu den Blicken spricht, wo alles Poesie ist«.

Matthias Pierre Lubinsky

 

Max Liebermann, Atelier des Künstlers am Brandenburger Tor in Berlin, 1902
© Kunstmuseum St. Gallen

 

Mythos Atelier in der Staatsgalerie Stuttgart

 

 




Joel Sternfeld – Retrospektive

Joel Sternfeld, Washington D.C., August 1974
Courtesy Luhring Augustine, New York

 

Joel Sternfelds Photographien seiner Heimat USA wirken auf den ersten Blick unspektakulär: Es sind Landschaften, Straßenzüge, Häuser oder Situationen. Machmal wirkt es komisch, wenn das Subjekt seines Interesses in seiner Lebenssituation posiert: auf einem leeren Supermarkt-Parkplatz mit offenem Hemd oder mit seiner eigenwilligen Kleidung einfach nur auf einem Hügel.

Dennoch versteht es der New Yorker Photograph, jedem seine Intimssphäre soweit zu lassen, wie er es möchte. Mit seinen Photographien von US-Amerikanern in ihrem direkten Lebensumfeld bezieht sich Joel Sternfeld zugleich auf die soziologischen Studien von August Sander wie auf die photographische Vermessung der USA durch Walker Evans und Robert Frank.

In der C/O Berlin im Kaiserlichen Postfuhramt ist nun erstamls eine umfassende Retrospektive zu sehen. Sie umfasst die Werkgruppen American Prospects, Sweeth Earth, Stranger Passing und On this Site. Unter der unprätentiösen Oberfläche der Photos von Joel Sternfeld verbergen sich gescheiterte Utopien, aufgegebene Hoffnungen und zum Teil sogar blutige Taten. – Es ergibt sich ein Panorama der US-amerikanischen Wirklichkeit der vergangenen 40 Jahre jenseits der bunten Fassaden.

 

Joel Sternfeld – Retrospektive. 10.11.2012 – 13.1.2013.
C/O Berlin Postfuhramt
Oranienburger Straße 35/36
10117 Berlin
geöffnet täglich 11 – 20 Uhr.

 

 

 







Paul Klee – Die Engel

Paul Klee, Angelus novus, 1920, 32



Paul Klee, Die Engel.
Ausstellung im Zentrum Paul Klee, Bern noch bis 20. Januar 2013.
Katalog Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012, 151 Seiten, etwa 120 farbige Abbildungen, 29,80 Euro.

 





Paul Klee (1879-1940) gehört zu den bedeutendsten Künstlern der Klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts. Er wird heute angesehen als eine Art deutscher Picasso. Eine Ausstellung und ein begleitendes Künstlerbuch widmen sich einer speziellen Werkgruppe Klees: den Engeln.

Über allem thront Angelus novus, Paul Klees ikonographisches Bild von 1920. Es ist kunsthistorisch derart bedeutungsschwer aufgeladen, dass die Gefahr besteht, sich diesem Werk gar nicht mehr vorurteilsfrei nähern zu können. Dabei wurde die Rezeptionsgeschichte dieses Bildes noch überhöht, als der Suhrkamp Verlag ein Buch mit Texten Walter Benjamins den Titel Angelus Novus gegeben hat. So lohnt es sich, die Historie seines Besitzes zu vergegenwärtigen, die für sich ein veritabler Kulturkrimi ist.

Im Frühjahr 1940 entwarf der Philosoph Walter Benjamin im Pariser Exil eine experimentelle Reflexion: 15 geschichtsphilosophische Thesen bilden Über den Begriff der Geschichte. Darin enthalten ist ein kurzer Text über Paul Klees Angelus novus:

»Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert…«

Benjamin ging es weniger um eine enge Interpretation des Bildes, als vielmehr eine geschichts-philosophische Ableitung, die durch das Werk motiviert ist. Weiß man, dass das Bild Benjamin gehörte und jahrelang in seiner Wohnung hing, so kann dies nicht verwundern. Der marxistische Philosoph hatte das Bild im Mai 1921 für 1.000 Mark in der Galerie Goltz am Odeonplatz in München erworben. Benjamin hängte das Bild in seinem Arbeitszimmer in der Berliner Wohnung über das Sofa. Als er sich 1932 mit Suizidgedanken trug, verfasste er ein Testament, in dem er seinen engen Freund und Studienkollegen Gershom Scholem als Erben des Bildes einsetzte. Benjamin ging es vor allem darum, das Bild in sicheren Händen zu wissen. Scholem war nach Jerusalem emigriert. Um 1935 schmuggelte eine Bekannte Benjamins das Bild von Berlin nach Paris, wohin der 1933 vor den Nazis geflohen war. 1939 erwog Benjamin halbherzig, »das einzige wichtige und verkäufliche Objekt«, das ihm verblieben war zu veräußern, um damit seine Überfahrt in die Vereinigten Staaten zu finanzieren. Im Rahmen der Vorbereitung seiner Flucht aus Europa verstaute Benjamin das Bild in einem Koffer, in dem es nach Amerika zu Theodor W. Adorno gelangte. Der nahm es nach dem Krieg nach Frankfurt am Main mit. In den 1960er-Jahren entspann sich ein Streit zwischen Scholem und Benjamins Sohn, der das Bild nach Adornos Tod erhalten hatte. Nach dem Tod von Stefan Benjamin wurde das Werk durch Vermittlung des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld an Scholem ausgehändigt. Seine Frau und er schenkten es 1987 dem Israel Museum in Jerusalem, wo es seitdem öffentlich zugänglich ist.

Die Engel Paul Klees spiegeln sein gesamtes Schaffen: Für ihn symbolisierten sie höhere Wesen. Und waren zugleich völlig weltlich. Sie standen gleichzeitig für Spiritualität und Skepsis und nötigem Zweifel gegenüber Religion und kirchlichem Glauben. So sind die Engel bei Paul Klee niemals nur schön oder entsprechen irgendwelchen Idealen. Sie sind dem menschlichen Dasein verhaftet, durchaus auch hässlich oder mit Makeln versehen. – Es lohnt sich, sich auf die Engel Paul Klees einzulassen.





Die Ausstellung ist noch bis zum 20. Januar 2013 im Zentrum Paul Klee in Bern zu sehen.
Ab dem 1. Februar 2013 im Museum Folkwang, Essen und ab dem 26. April 2013 in der Hamburger Kunsthalle.





Gustave Caillebotte und die Photographie

Gustave Caillebotte, Parkettschleifer, 1875
© Paris, Musée d’Orsay, Geschenk der Erben von Gustave Caillebotte, 1894
Foto: © bpk | RMN | Hervé Lewandowski

 


Eugène Atget, Asphaltierer, um 1900
aus der Serie Paris, petit métiers
© Bibliothèque historique de la Ville Paris

 

 

Gustave Caillebotte – Ein Impressionist und die Fotografie.
Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt noch bis 20. Januar 2012.
Katalogbuch hrsg, von Karin Sagner und Max Hollein, Hirmer Verlag, Nünchen 2012, 280 Seiten mit 280 Abbildungen, 39,90 Euro.

 

 

»Das ist eine Malerei, die unmittelbar an Fotografie denken lässt«, schrieb ein Kritiker 1877 über den französischen Impressionisten Gustave Caillebotte (1848-1894). Obwohl der Maler bereits zu Lebzeiten ungeheuer einflussreich war und sein Werk denen von Edgar Degas oder Claude Monet, mit denen er befreundet war, in nichts nachsteht, ist er in Deutschland kaum bekannt. Die Ausstellung und der Katalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt Gustave Caillebotte – Ein Impressionist und die Fotografie wollen das ändern.


In der Schirn Kunsthalle Frankfurt ist eine besondere optische Erfahrung zu machen: Die Gegenüberstellung von Motiven Caillebottes mit Photographien aus der Zeit schafft einen Dialog. Der Blickwinkel der Künstler veränderte sich. Interessant werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Paris ausschnitthafte Szenen. Es interessieren eher Details als die Situation im Kontext. Und: Die Bewegung rückt in den Fokus.

 

Betrachtet man beispielsweise die Photographie Asphaltierer von Eugène Atget und sieht sie zusammen mit dem Gemälde Parkettschleifer von Gustave Caillebotte, so ist die Ähnlichkeit beider Werke auffällig. Ohne weiter darüber nachzudenken, geht der Betrachter davon aus, das Photo sei zuerst entstanden. Wie so häufig in der Kunstgeschichte wird wohl das Photo die Vorlage für das Gemälde geliefert haben. Bei Caillebotte ist genau das Gegenteil der Fall. Seine Parkettschleifer malte er 1875. Atget photographierte die Straßenarbeiter um 1900. Der Blickwinkel aus einer halbhohen Position ist bei beiden Werken der gleiche.

 

Was jedoch an Caillebottes Werk am meisten fasziniert, ist die Art, wie es ihm gelungen ist, Bewegung darzustellen. Zahlreiche Skizzen und Vorstudien in Ausstellung und Katalog zeigen, wie akribisch der Maler Bewegungsabläufe studierte und versuchte, diese im Bild zu bannen. So erweisen sich seine Gemälde bei genauerer Betrachtung als »durchdachte Synthesen, als präzise kalkulierte Konstruktionen«, wie Kuratorin Karin Sagner im begleitenden Katalogbuch schreibt. Dabei erweist sich, dass Caillebotte in engem Dialog mit der aufkommenden Photographie stand. Revolutionär und genialisch antizipierte er den photographischen Blick in seinen Bildern. In dem noch neuen Medium Photographie wurden um 1860 durch kürzere Belichtungszeiten Momentaufnahmen möglich. Nun ließ sich Bewegung im Bild festhalten. Straßen und Plätze mit ihren Flaneuren waren ab jetzt keine verzerrten Schemen, sondern wirkten echt.

 

In den 1870er-Jahren kamen die Serienaufnahmen auf. Die so genannten Chronophotographien von Etiènne-Jules Marey und Eadweard Muybridge ermöglichten die Wiedergabe der Haltung eines Gehenden, – wie sie für das bloße Auge nicht wahrnehmbar ist. Die Künstler, von Natur aus an neuen Medien interessiert, waren zahlreich zugegen, als 1881 Muybridge seine Bewegungs-Photographie erstmals der Öffentlichkeit präsentierte.

 

Gustave Caillebotte lebte in einem vermögenden, großbürgerlichen Umfeld. Nach einem Studium der Rechte reiste er 1872 mit seinem Vater nach Süditalien. In Neapel besuchte er den Maler Guiseppe de Nittis, einen Freund von Degas. Nach dem Tod des Vaters 1874 war Caillebotte finanziell gut gestellt und konnte ausschließlich seinen Interessen nachgehen. Neben der Malerei waren dies die Philatelie (und nicht die Philanthropie, wie im Katalog zu lesen), das Sammeln alten Porzellans, Wassersport und die Konstruktion von Segelbooten.

 

Ausstellung und begleitendes Katalogbuch gewähren einen essenziell neuen Blick auf das herausragende Werk dieses radikal-modernen Impressionisten. Ohne die detaillierte Gegenüberstellung von Gemälden Caillebottes mit Photos würde der photographische Blick des Malers nur eine Vermutung, ein unterbewusster Verdacht bleiben.

 

Der Katalog aus dem Münchner Hirmer Verlag ist für Kunstinteressierte unbedingt empfehlenswert, erlaubt er ein Immer-wieder-Nachlesen und -Nachschauen dieses ungeheuer spannenden Dialogs zwischen Malerei und Photographie. Verschiedene Texte beleuchten Aspekte dieser intensiven Phase der Kunstgeschichte: die neue Wahrnehmung der Stadt, die Ästhetik der Arbeit oder Landschaft und Abstraktion sind nur einige der Themengebiete. Eine Biographie von Gilles Chardeau bringt den Ausnahme-Maler dem deutschen Publikum näher. In diesem Zusammenhang empfehlen wir auch das besonders gelungene Künstlerbuch der Kuratorin aus dem Jahr 2009, in dem viele der ausgestellten Werke ausführlich beschrieben werden: Karin Sagner, Gustave Caillebotte – Neue Perspektiven des Impressionismus.

© Matthias Pierre Lubinsky

 


 

Martial Caillebotte, Gustave Caillebotte und Bergère auf der Place du Carrousel, Februar 1892
Photographie © Privatsammlung