JD Ferguson – Backstage Pass

JD Ferguson, Eva Mendes and Katl Lagerfeld,
Visionaire/Lacoste party, Paris 2008
© JD Ferguson Courtesy MILA Kunstgalerie

 

 

Die MILA Kunstgalerie präsentiert während der Berlin Fashion Week Photographien von JD Ferguson: etwa 120 Backstage-, Celebrity- und Party-Aufnahmen aus den Jahren 2007 bis 2012.

JD Ferguson war über zehn Jahre selbst als Model tätig und hat sich nun hinter die Kamera begeben.

 

JD Ferguson – Backstage Pass
17.  Januar – 23.  Februar 2013
Diestangs – freitags 11.00 – 19.00 Uhr.
MILA Kunszgalerie
Linienstraße 154
10115 Berlin

Andy Warhol – 1950s Drawings

Andy Warhol, no Title (Dead Stop), c. 1954
ink and graphite on paper, 45,3 x 40,9 cm
Courtesy of Daniel Blau Munich/London
© Andy Warhol Foundation for the Visual Art Inc.

 

 

Andy Warhol, From Silverpoint to Silver Screen. 1950s Paintings.
Ausstellung
Louisiana Museum of Modern Art, Dänemark noch bis 21. Februar 2013.
Katalog hrsg. von Daniel Blau, Hirmer Verlag, München 2012, Deutsch/Englisch, 284 Seiten, gedruckt auf LuxoArt samt New, geb. mit Schutzumschlag, 39,90 Euro.

 

Dieser Fund gleicht einer Sensation: Oft werden diese Worte im überdrehten Kunstmarkt gebraucht. Hier dürften sie stimmen. Die frühen Zeichnungen von Andy Warhol.

 

Daniel Blau sitzt nicht zum ersten Mal in dem großen, kalten Vorführraum der Andy Warhol Foundation. Der Klappstuhl ist unbequem, und der riesige Metalltisch vor ihm strahlt Kälte ab. Die Zeichnungen, die man dem Münchner Kunsthändler zuvor präsentiert hat, waren nur noch Restbestände. Vieles ist inzwischen verkauft worden und öffentlich gezeigt. »Gibt es nicht vielleicht noch Früheres, etwas mit Kindern oder kommunistischen Demonstrationen«, fragt er beinahe flehentlich Vincent Fremont, der zwischen der Stiftung und den Händlern vermittelt.

 

Was nun – nach und nach – vor ihm ausgebreitet wird, verschlägt ihm die Sprache. Es sind Dutzende von Bogen mit frühen, sehr einfachen und konzentrierten Zeichnungen Warhols aus den 1950er Jahren. Dass diese für das Verstehen des wohl einflussreichsten Künstlers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so bedeutenden Werke bislang unbehelligt dahinschlummern konnten, ist einem einfachen Umstand geschuldet: In den 1990er Jahren wurde Warhols letzter Nachlass registriert. Und alles wurde zwei Kategorien zugeordnet. »Kunst zum Verkauf« oder »Archivmaterial« waren die beiden einzigen Möglichkeiten. Die nun in Dänemark erstmalig gezeigten 200 Zeichnungen wurden als Archivmaterial eingeordnet – und landeten in Metallschubladen.

 

Diese Skizzen. Proben, Studien werden noch zu vielen Forschungen und Interpretationen Anlass geben. Interessant ist, dass die Pop-Ikone bereits in dieser frühen Phase – etwa 10 Jahre vor den ersten Siebdrucken – mit der Serie als Stilmittel arbeitet. So sind die Zeichnungen nicht einfach mit der Hand produziert. Vielmehr machte Andy Warhol von der noch frischen Darstellung einen Abdruck auf ein angehängtes zweites Blatt. Wenn man so will, ein früher Vorläufer seiner später zur kapitalistischen Perfektion entwickelten Serien-Produktion des Siebdrucks.

 

Die Ausstellung im dänischen Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk zeigt aus dem Gesamtschatz etwa 200 Arbeiten. Viele finden sich auf mehreren Papierblättern, die wieder zusammengefügt werden mussten. Mache entstanden auf Zeichenblöcken, wo sie von Warhol unachtsam herausgerissen wurden, so dass teilweise Ecken des Blattes fehlen. Den meisten dieser Zeichnungen lagen Photographien zugrunde von Edward Wallowitch. Heute nennt man sie street photography. Es finden sich schon die Motive, mit denen der Pop-Art-Künstler später so berühmt wurde und die allgemein mit ihm verbunden werden: Ein junger Mann in James Dean-Pose und charismatische Gesichter im Portrait.

 

Diese frühen Zeichnungen Warhols zeugen zugleich von Flüchtigkeit und Konzentration. Man kann spätere Szenen aus seinen Filmen erkennen. Man kann das Getriebensein eines Graphikers studieren, der gerade nach New York gekommen war, um die große Welt zu entdecken – und zu erobern. So sucht er gleichzeitig ausdrucksstarke Szenen gestalterisch zu bändigen, einzufangen, wie auch scheinbar möglichst effektiv darzustellen. Möglichst wenige Striche sollen genügen. Schnell muss es gehen. Sydney Picasso sieht in ihrem kurzen Beitrag im Katalog auch Warhols Sehnsucht als Ursache der für seine Eile, nun endlich an dem New Yorker Bohème-Leben teilzunehmen.

 

Der Katalog präsentiert alle ausgestellten Zeichnungen auf schwerem mattem Papier. Wenige instruktive Texte ergänzen die sammelwürdige Erstveröffentlichung. Bereits zu Anfang des Jahres 2013 ein Highlight der Kunstbücher!

 

Andy Warhol, no Title (James Dean Look-Alike), c. 1957
ink and graphite on paper
45,9 x 30 cm
Courtesy of Daniel Blau Munich/London
© Andy Warhol Foundation for the Visual Art Inc.

 

 

Andy Warhol, no Title (James Dean Look-Alike), c. 1957
ink and graphite on paper
45,9 x 30 cm
Courtesy of Daniel Blau Munich/London
© Andy Warhol Foundation for the Visual Art Inc.

 

 

 

Andy Warhol – Frühe Zeichnungen

Humlebæk, Louisiana Museum of Modern Art Dänemark, noch bis 21. Februar 2013.
2. Juni bis 1. September  2013 Teylers Museum, Haarlem, Niederlande
15. September bis 15. November 2013 Staatliche Graphische Sammlung München.

 





Sylt im Spiegel zeitgenössischer Fotografie

© Volker Hinz, Gartenlokal Gogärtchen 1974


Der Bildband Sylt im Spiegel zeitgenössischer Fotografie versammelt Aufnahmen von zwei Dutzend Künstlern über ein halbes Jahrhundert. Der süffisante Band zeigt die beliebteste deutsche Ferieninsel in all ihren Facetten – auch abseits der ausgetrampelten Touristenpfade: Reichtum und Armseligkeit, Skurrilitäten und melancholische Momente.

Das Buch ist nur noch vereinzelt lieferbar.



Sylt im Spiegel zeitgenössischer Fotografie. Hrsg. von Denis Brudna. Hatje Cantz Verlag 2012, 160 Seiten mit etwa 150 Abbildungen, geb. mit Schutzumschlag, 29,80 Euro.




Georges Didi-Huberman – Überleben der Glühwürmchen

Georges Didi-Hubermans philosophische Studie: Die verirrten Seelen suchen das Licht – und verbrennen darin

 

 

Georges Didi-Huberman, Überleben der Glühwürmchen. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Wilhelm Fink Verlag, München 2012, 145 Seiten, Ppb., 24,90 Euro.

 

Was ist in der Hölle?

Dante stellte sich einst vor, im Höllenkries der »trügerischen Ratgeber« würden sich die kleinen Lichter der bösen Seelen tummeln. Fernab vom großen und einzigartigen Licht, das uns im Paradies versprochen wird, sah Plinius der Ältere die Glühwürmchen sich dem Feuer nähern. Die schwachen und irrenden Seelen suchten Wärme und Licht, doch kämen sie ihnen in ihrem ungewissen Flug zu nahe, so würden sie verbrennen. Das Gleichnis der Glühwürmchen als ehemaliger menschlicher Seelen ist beinahe so alt wie die Eschatologie.

Nun scheint es heute, so Georges Didi-Huberman, die Neuzeit habe dieses Verhältnis von irrenden und rechten Seelen verkehrt: Es habe den Anschein, so der französische Philosoph und Kunsthistoriker in seinem gerade in Deutsch erschienenen Buch Überleben der Glühwürmchen, die trügerischen Ratgeber tummelten sich triumphierend in den hellen Strahlen, beispielsweise des Fernsehens – und nicht in der abgeschiedenen Dunkelheit. Über die gedankliche Perlenschnur von Paolo Pasolini (1922-1975) und Giorgio Agamben (geboren 1942) kommt er zu Walter Benjamin (1892-1940). Aber der Reihe nach.

Der italienische Filmregisseur Paolo Pasolini beobachtete ein Sinnvakuum, dass sogar nach dem Ende des Faschismus noch größer geworden sei. Das »von der Konsumgesellschaft geforderte Zwangsverhalten« habe das Bewusstsein des italienischen Volkes »umgemodelt, deformiert und zu einer Degradierung getrieben«, von der es kein Zurück mehr gebe. Denn selbst im Faschismus sei das äußere Verhalten noch völlig vom Bewusstsein getrennt gewesen.

Der italienische Religionsphilosoph Giorgio Agamben diagnostiziert in der Gegenwart eine vollständige Trennung von Herrschaft und Regierung und die Souveränität im Ökonomischen. In dieser Metaphorik erleideten die Völker dasselbe Schicksal wie die Glühwürmchen, so Didi-Huberman: sie verglühen.

Aber Didi-Huberman widerspricht jeglichem Kultur-Pessimismus. Der Professor an der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris hält sich lieber an Hannah Arendt und Walter Benjamin. Die Glühwürmchen – also für sie die ‚guten‘ Seelen – würden eine quasi unbegrenzte Ressource besitzen: den Rückzug. Und so entflammt er in seiner kleinen und fulminanten Schrift die Nichtteilnahme als Appell. Wäre der Rückzug keine Selbstbezogenheit, so liege in ihm eine »diagonale Kraft«. Ihre »heimliche Gemeinschaft« wäre ein »vielfaches Stück Menschlichkeit«: »Nur von uns hängt es ab, die Glühwürmchen nicht verschwinden zu sehen. Dazu müssen wir selbst jedoch all dies auf uns nehmen: die Bewegungsfreiheit; den Rückzug, (…) die Fähigkeit, immer wieder ein Stück Menschlichkeit in Erscheinung treten zu lassen; das unzerstörbare Begehren.«

Die Menschen bräuchten Bilder, um den Pessimismus umzukehren. Nach Walter Benjamin: »Bilder also, um unseren Pessimismus zu organisieren.«

© Matthias Pierre Lubinsky

 

 


 

 


Fashion & Foam in Amsterdam

Das Plakat der Fashion-Photo-Ausstellung in Amsterdam

 

 

Am 10. Januar 2013, 17.30 Uhr eröffnet in Amsterdam die Ausstellung Fashion &Foam: 15 Mode-Photographen waren aufgefordert, zusammen mit einem Modemacher eines von drei ikonographischen Mode-Photos neu zu interpretieren. Diese Photos sind von Anton Corbijn, Erwin Olaf und dem Photographen-Duo Inez van Lamsweerde & Vinoodh Matadin.

Fashion &Foam
10. Januar – 17. März 2013

& Foam
Vijzelstraat 78 . 1017 HL Amsterdam
The Netherlands
T +31 (020)-7600489



David Bowie – Where Are We Now?

David Bowies neue Single: Raum zur Interpretation

 

 

David Bowie bringt zu seinem 66. Geburtstag nach 10 Jahren eine neue Single – als Vorbotin einer ganzen LP: Where are we now?

 




Florian Günther – Reisen ohne Wegzumüssen

Florian Günthers Bildband ist eine subtile Zeitreise in die jüngste deutsche Geschichte

 

 

Florian Günther, Reisen ohne Wegzumüssen. Fotografien 1984-1994. Edition Lükk Nösens, Berlin 2012, 304 Seiten mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen, französische Bindung, 29,80 Euro.

 

Florian Günthers Biographie ist so typisch – und gleichzeitig so untypisch für einen Künstler, dessen Heimat die DDR war. Typisch ist sie, weil er sich vom offiziellen Kulturbetrieb fernhielt. Untypisch ist sie, weil er es wirklich tat.

Auch von der Künstlerszene und Bohème vom Prenzlauer Berg hielt er sich fern. Früh schon begann er zu photographieren. Ihm sei es darum gegangen, sagt er in einem langen Interview in seinem gerade erschienen ersten Photoband , das was er gerade sehe, festzuhalten. Da ist Werner, ein Nachbar, dem er sonst nicht oft begegnet sei. Nun sitzt man zusammen in dessen Wohnung und trinkt. Werner holt ein Holzschwert hervor – und Florian Günther drückt ab. Schnappschuss. Da ist Krause, der Schäferhund. Er setzt gerade einen Haufen auf das Kopfsteinpflaster – wieder entsteht eines der typischen Photos in Schwarz-Weiß, die so unendlich viel aussagen über die Atmosphäre und Lebenssituation in der DDR. Florian Günther hat einen Blick für den Moment, der doch soweit über diesen Moment hinauszureichen scheint.

Das Erscheinen dieses gelungenen Photobuches ist einem Glücksumstand zu verdanken. In einer rauschhaften Verzweiflungstat schmiss der Photograph Anfang der 1980er Jahre sein gesamtes Archiv mit wohl Hunderten von Negativen in den Müll. Deshalb heißt das umfangreiche Buch aus der Edition Lükk Nösens nun Reisen ohne Wegzumüssen – Fotografien 1984-1994. Florian Günther ist bislang eher bekannt für seine Gedichte. Sieben Gedichtbände sind bisher erschienen, – der achte ist in Vorbereitung. Kennt man zuerst nur eines der künstlerischen Medien des 1960 Geborenen, so stellt man fest, dass sich die Gedichte und die Photos in subtiler Weise ergänzen: Was Günther in so kurze und treffende Sprache fast, hat er auch in seinen Schwarz-Weiß-Photos festgehalten. Es sind Momentaufnahmen eines Lebens namens Wahnsinn, in dem jeden Tag aufs Neue Verrücktes, Komisches, Skurriles auf den Berliner einströmen.

 

Florian Günther, Die Party ist vorbei, Berlin 1986
© Florian Günther

 

Seine Photos sprechen von seiner Lebenserfahrung. Er war in seinem Berufsleben immerhin schon Eisenflechter, Buchverkäufer, Graphiker und manch anderes. Doch was sagen diese Bezeichnungen aus? Dabei lehnt er den Begriff ‚Lebenskünstler‘ für sich ab. »Aber sicher gehört auch ein gewisses Maß an Kunstfertigkeit dazu, ein so verpfuschtes Leben wie meins zu führen«, sagt er im gleichsam niveauvollen wie unterhaltsamen Gespräch mit Marvin Chlada. Das Buch reproduziert viele der eindringlichen Aufnahmen doppelseitig, was dem Betrachter das Verschwinden in ihnen erleichtert. Viele andere Bilder sind mit dem Löcherrand des Filmstreifens abgedruckt, was ihren dokumentarischen Eindruck noch verstärkt.

 

 

Florian Günther, Blumen, Berlin 1984
© Florian Günther

 

 

Florian Günther, Werner mit Holzschwert, Berlin 1984
© Florian Günther

 

 

Das Interview begleitet die Photographien und zieht sich über die 300 Seiten des beeindruckenden Photobandes. Wie kaum ein anderes Buch vermag es einen Eindruck zu vermitteln, wie das Leben in Ost-Berlin war. In einem Staat und Gesellschaftssystem, das untergegangen ist. Wie es scheint vor Ewigkeiten. Dabei ist das Ende der DDR gerade einmal zwei Jahrzehnte her.

Dringend zu empfehlen ist das Buch als Pflichtlektüre für den Kunstunterricht in den östlichen Bezirken Berlins – aber nicht nur hier. Im Prenzlauer Berg hat seit der Vereinigung ein fast vollständiger Bevölkerungsaustausch stattgefunden. – Gern würden wir die Gesichter der dortigen Schüler nach der Lektüre und Betrachtung des Buches sehen.

Hier kann man das Buch bestellen:
Photo Edition Berlin

Roberto Calasso – Der Traum Baudelaires

Notre Dame von der Ile Saint Louis aus gesehen: Diesen Weg ist Baudelaire oft gegangen

Roberto Calasso, Der Traum Baudelaires. Aus dem Italienischen von Reimar Klein. Carl Hanser Verlag München 2012, 496 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 34,90 Euro.

In der Nacht zum 13. März 1856 hat der französische Schriftsteller Charles Baudelaire einen vertrackten Traum: Er flaniert allein durch das nächtliche Paris, als er zufällig einen Freund trifft, der in seiner Kutsche sitzt. Das bietet ihm die Gelegenheit, diesen darum zu bitten, ihn zu einem Bordell zu bringen, wo er der Chefin ein Buch von sich, das soeben erschienen ist – ein »obszönes« Buch – zu überreichen.  Anschließend wird Baudelaire in seinem Traum durch die großen und verschlungenen Räumlichkeiten dieses Etablissements schreiten: An den Wänden hängen erotische Zeichnungen und dann  Miniaturen von bunten Vögeln … In einem der letzten Räume steht auf einem Sockel ein »Monstrum« das lebendig ist …

Roberto Calasso führt uns in seinem nun ins Deutsche übersetzten Buch Der Traum Baudelaires durch diesen Traum. Er führt uns durch diesen Traum, ohne ihn nach Freudscher Manier zu deuten, sprich zu vergewaltigen. Vielmehr gibt er dem Leser Hinweise, Verweise, Interpretationsangebote auf und für die so vielen Andeutungen Baudelaires. Denn dieser große Erneuerer der französischen – und nicht nur der – Literatur im 19. Jahrhundert war sowohl Meister wie auch Magier, wie wir von dem italienischen Schriftsteller erfahren. So schreiten wir durch die Chimäre des Museumsbordells von Baudelaires Traum und sind beinahe selbst traumähnlich in einer Art von poetischer Trance dem Text des Mailänders ausgeliefert. Er nimmt den Leser mit an die Hand und durch den Traum, die Räume und seine Auslegungen, sodass einem ob des Verstehens so manches Mal ein Staunen enträuspert.

Wie diesen Text charakterisieren? Seine ungeheure Stärke liegt gerade darin, keiner der üblichen Schubladen zu entsprechen. Wir haben es hier weder mit einer klassischen Biographie oder Werkbiographie zu tun. Es handelt sich auch nicht um eine literaturwissenschaftliche Abhandlung. Calasso spricht an einer Stelle von »einer intellektuell geschwächten Zeit wie der gegenwärtigen«. Kann man seine Distanz zum heutigen Wissenschaftsbetrieb deutlicher zum Ausdruck bringen? Mit fortschreitender Lektüre erhält der Leser selbst das Gefühl, in ein Zwischenreich eingetreten zu sein. Das Lesen selbst wird zum Traum. Zu einer anderen, höheren Existenzform. Lesen als geistige Meditation.

Was für den zentralen Traum im Werk Baudelaires gilt, ist emblematisch für Calassos ganzes Buch: Auf über 400 Seiten wird man mitgenommen auf eine lange und intensive Reise durch die Welt Baudelaires. Das betrifft die Lebenswelt des Dandys, die Wohnungen in Paris, seine Frauen, seine lebenslange finanzielle Abhängigkeit von der Mutter. Wir lernen diesen Ausnahmeschriftsteller kennen, – besser verstehen. Wir bekommen ein Gefühl dafür, wie die Mittelmäßigen, die zu jeder Zeit regieren, über die wenigen Genialen urteilen. In Baudelaires Fall ist dies Sainte-Beuve, der brutale aber einflussreiche Kritiker. – Baudelaire, der so stolze und gediegene Dandy, war sich nicht zu fein, dem zynischen Kritiker Pfefferkuchen nach Hause in die Rue Montparnasse zu schicken. Nebst einer Anleitung, wie der denn am besten zu genießen sei: mit Wein zum Nachtisch, den englischen jedoch auch mit Butter und Marmelade. Baudelaire, der damit um eine Rezension bettelte, fügte hinzu: »Ich hoffe, daß sie dieses Stück Pfefferkuchen mit Engelwurz nicht als den Scherz eines Flegels aufgefaßt und in aller Unbefangenheit verzehrt haben.«

 

Aus dem surrealen Nebel über der Seine, der die Person Charles Baudelaires umgibt, entsteht über die Seiten dieses hervorragenden Buches eine Silhouette; von Kapitel zu Kapitel können wir ihn besser verstehen, diesen Getriebenen, der sein Opium brauchte, um das Leben überhaupt ertragen zu können. Er tritt näher an uns heran, seine Konturen bekommen Form. Niemand habe sich Baudelaire vergleichen können, schreibt Calasso, »so vielfältig und eigentümlich waren seine Elemente, so sehr waren diese zentrifugalen Kräften ausgesetzt, die sich jedem Ausgleich zu widersetzen schienen«. Aber der italienische Biograph stellt zugleich fest: »Und doch beeindruckte bei dieser Figur ihre Einheit, dies so fest und tief gegründet war, daß man sie in jedem seiner Worte zu erkennen glaubte, als brauchte man sie nur gegen das Licht zu halten, um ein allgegenwärtiges Wasserzeichen darin zu entdecken.«

 

Roberto Calasso lässt uns teilhaben an seiner umfangreichen Belesenheit. So durchschreiten wir das geistige Haus Baudelaires mit seinen Anregern und seinen Interpreten. Seinen geistigen Weggefährten und persönlichen Feinden. Was für ein Buch!

Édith Piaf & Marlene Dietrich

Marlene Dietrich (27. Dezember 1901 – 6. Mai 1992)

 

 

Am 27. Dezember 2012 wäre Marlene Dietrich 111 Jahre alt geworden. In memoriam.

 

 



Michael Maar – Proust Pharao

Michael Maars feine Essays über Marcel Proust versammelt in Halbleinen
© Berenberg Verlag 2009

 

 

Michael Maar, Proust Pharao, Berenberg Verlag, Berlin 2009, 80 Seiten in Halbleinen, 19 Euro.

 

Marcel Proust (1871-1922) war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Mit dem riesigen Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schuf der französische Schriftsteller eine der bedeutendsten Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Proust war zugleich Plauderer wie Verschweiger – wie Michael Maar in einem kleinen sehr gelungenen Buch zeigt.

 

Über den Verfasser von À la recherche du temps perdu gibt es so viel Sekundärliteratur, dass diese wohl kaum noch in eine 2-Zimmer-Wohnung passen würde. Und dennoch hat es der schreibende Dandy verstanden, vieles von sich geheim zu halten. Im Jahr 1996 wurden bei Christie’s einhundert Briefe Marcel Prousts versteigert, die er seinem Freund Lucien Daudet geschrieben hatte. Das war deshalb so aufregend, weil ein Großteil der Briefe an Daudet nicht veröffentlicht ist – ja sogar als unbekannt oder verschollen gelten muss. Damals hatten alle Beteiligten Grund genug, Intimes für sich zu behalten, waren sie doch ein Kreis homosexueller junger Männer. Daudet selbst hatte 1929 eine kleine Auswahl der Briefe an ihn veröffentlicht. Allerdings, berichtet Michael Maar, hatte der Herausgeber keinen Brief so veröffentlicht, wie er war, sondern vieles geschwärzt. Der Katalog von Christie’s nun kam einer Sensation gleich, verzichtete doch das renommierte Auktionshaus auf jegliche Zensur. Michael Maar begibt sich aufgrund der neuen Einblicke auf die Recherche nach verlorenen Details aus Prousts Leben. In einem dieser aufgetauchten Briefe, deren Inhalt man nun erstmalig vollständig lesen konnte, schreibt Proust von dem schon länger zurückliegenden Tod einer Person, von der in seinem Roman A l’ombre des jeunes filles en fleurs die Rede sei. Michael Maar gelingt es aufgrund von detektivischen Zusammenfügungen, in der Romanfigur Prousts zeitweiligen Bekannten Edgar Aubert zu erkennen.

Das kleine und feine Büchlein zeigt selbst Proust-Kennern in Facetten einen Autoren, den man so bislang nicht gesehen hat. Die kurzen Kapitel kreisen um Details aus Prousts Doppelleben.  Wunderbar auch das Kapitel über Prousts letzte Haushälterin, Céleste Albaret. Maar schildert eine Beziehung der jungen Frau zu dem schwerkranken manischen Schriftsteller, die von tiefer gegenseitiger Zuneigung und Achtung getragen war. Sie »waren seelenverwandt«, schreibt er. »Zu Zeiten war sie seine Mutter, zu Zeiten sein Kind. Er merkte alles, er verstand alles, und er brauchte sie. Er war ein gütiges Ungeheuer, wie das Tier im Märchen. Céleste kannte ihn wie niemand sonst auf der Welt.« Sie durfte sein Zimmer nur dann betreten, wenn er nach ihr geläutet hatte. Dies blieb einmal aus. Zwei ganze Tage lang. Céleste schlich mehrmals ängstlich vor die Zimmertür, um zu hören, ob der Asthmakranke noch atme. Als er nach zwei Tagen läutete, kam sie auf den Grund: Proust wollte das Sterben einer seiner Romanfiguren möglichst anschaulich beschreiben; deshalb hatte er sich selbst an den Abgrund manövriert.

Es macht Spaß zu lesen, wie es dem vielfach ausgezeichneten Autoren gelingt, in dieser graziösen Kürze – die ja dem Proustschen Vorgehen diametral entgegensteht – solch verdichtete literarische Prosastückchen zu schreiben.

Nicht nur zum 90. Todestag von Marcel Proust ein perfektes Mitbringsel für interessierte Connaisseurs. – Ein Buch, das sich an einem regnerischen Sonntag lesen lässt. Ein reiner Genuss, eine Lesefreude und ein Bildungserlebnis.

© Matthias Pierre Lubinsky