Michael Maars feine Essays über Marcel Proust versammelt in Halbleinen
© Berenberg Verlag 2009
Michael Maar, Proust Pharao, Berenberg Verlag, Berlin 2009, 80 Seiten in Halbleinen, 19 Euro.
Marcel Proust (1871-1922) war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Mit dem riesigen Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schuf der französische Schriftsteller eine der bedeutendsten Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Proust war zugleich Plauderer wie Verschweiger – wie Michael Maar in einem kleinen sehr gelungenen Buch zeigt.
Über den Verfasser von À la recherche du temps perdu gibt es so viel Sekundärliteratur, dass diese wohl kaum noch in eine 2-Zimmer-Wohnung passen würde. Und dennoch hat es der schreibende Dandy verstanden, vieles von sich geheim zu halten. Im Jahr 1996 wurden bei Christie’s einhundert Briefe Marcel Prousts versteigert, die er seinem Freund Lucien Daudet geschrieben hatte. Das war deshalb so aufregend, weil ein Großteil der Briefe an Daudet nicht veröffentlicht ist – ja sogar als unbekannt oder verschollen gelten muss. Damals hatten alle Beteiligten Grund genug, Intimes für sich zu behalten, waren sie doch ein Kreis homosexueller junger Männer. Daudet selbst hatte 1929 eine kleine Auswahl der Briefe an ihn veröffentlicht. Allerdings, berichtet Michael Maar, hatte der Herausgeber keinen Brief so veröffentlicht, wie er war, sondern vieles geschwärzt. Der Katalog von Christie’s nun kam einer Sensation gleich, verzichtete doch das renommierte Auktionshaus auf jegliche Zensur. Michael Maar begibt sich aufgrund der neuen Einblicke auf die Recherche nach verlorenen Details aus Prousts Leben. In einem dieser aufgetauchten Briefe, deren Inhalt man nun erstmalig vollständig lesen konnte, schreibt Proust von dem schon länger zurückliegenden Tod einer Person, von der in seinem Roman A l’ombre des jeunes filles en fleurs die Rede sei. Michael Maar gelingt es aufgrund von detektivischen Zusammenfügungen, in der Romanfigur Prousts zeitweiligen Bekannten Edgar Aubert zu erkennen.
Das kleine und feine Büchlein zeigt selbst Proust-Kennern in Facetten einen Autoren, den man so bislang nicht gesehen hat. Die kurzen Kapitel kreisen um Details aus Prousts Doppelleben. Wunderbar auch das Kapitel über Prousts letzte Haushälterin, Céleste Albaret. Maar schildert eine Beziehung der jungen Frau zu dem schwerkranken manischen Schriftsteller, die von tiefer gegenseitiger Zuneigung und Achtung getragen war. Sie »waren seelenverwandt«, schreibt er. »Zu Zeiten war sie seine Mutter, zu Zeiten sein Kind. Er merkte alles, er verstand alles, und er brauchte sie. Er war ein gütiges Ungeheuer, wie das Tier im Märchen. Céleste kannte ihn wie niemand sonst auf der Welt.« Sie durfte sein Zimmer nur dann betreten, wenn er nach ihr geläutet hatte. Dies blieb einmal aus. Zwei ganze Tage lang. Céleste schlich mehrmals ängstlich vor die Zimmertür, um zu hören, ob der Asthmakranke noch atme. Als er nach zwei Tagen läutete, kam sie auf den Grund: Proust wollte das Sterben einer seiner Romanfiguren möglichst anschaulich beschreiben; deshalb hatte er sich selbst an den Abgrund manövriert.
Es macht Spaß zu lesen, wie es dem vielfach ausgezeichneten Autoren gelingt, in dieser graziösen Kürze – die ja dem Proustschen Vorgehen diametral entgegensteht – solch verdichtete literarische Prosastückchen zu schreiben.
Nicht nur zum 90. Todestag von Marcel Proust ein perfektes Mitbringsel für interessierte Connaisseurs. – Ein Buch, das sich an einem regnerischen Sonntag lesen lässt. Ein reiner Genuss, eine Lesefreude und ein Bildungserlebnis.
© Matthias Pierre Lubinsky