Beaux & Belles of England, 2 Vol., London o. J.
Apr. 19
Campbell, Kathleen: Beau Brummell.
A Biographical Study. London, Hammond, Hammond & Co. 1948.
Apr. 18
Stilvoll Reisen – Ein Benimmhandbuch für Unterwegs
Eine typische Warteschlange an einem globalisierten Passagier-Flughafen.
Zeichnung von Daniel Müller aus dem Buch von Phillipp Tingler Leichter Reisen
Die Zeiten werden nicht leichter. Als vor 100 Jahren das Massenzeitalter schon in vollem Aufkommen war, hatten empfindsame Geister – so sie denn einigermaßen betucht waren – wenigstens noch eine Fluchtmöglichkeit vor Mittelmaß, Geschmacklosigkeiten und mangelndem Benehmen in ihrer Heimatmetropole: das Reisen. Ob der Dandy-Abenteurer Otto E. Ehlers, der 1894 in Samoa wohl Kannibalen zum Opfer fiel, der berühmte Fürst Pückler, der als einer der ersten im Ballon fuhr oder Harry Graf Kessler, – sie alle frönten dem Reisen auch, weil man damals nach überschaubaren Strapazen doch recht schnell unter sich sein konnte.
Betraten noch in 1980er-Jahren eher seriöse Menschen die Erste Klasse der Bahn oder das Flugzeug, bei denen man mit einem Mindestmaß an Benehmen rechnen konnte, so hat sich auch dies im Zeitalter von Billigfliegern und Mobilophonie grundlegend verändert. Dabei ist es nicht mit der Feststellung getan, unteren Schichten seien erst aufgrund der Billigkeit des Mobiltelephonierens oder Flugreisens diese Tätigkeiten ermöglicht worden. Zu konzedieren ist gleichfalls ein Sittenverfall der mittleren Schichten. Auch leitende Angestellte fühlen sich bemüßigt, sofort nach dem Verlassen des Fliegers ihr Mobiltelephon anzuschalten. Wer traut sich heute schon ans Gepäckband, – ohne dabei zu telephonieren.
Das Schlimmste daran ist, dass man als Mitreisender dem Benehmen, Aussehen, Geruch und Gequatsche der anderen Passagiere relativ schutzlos ausgeliefert ist. So ist es häufig durch die räumliche Nähe leider nicht möglich, das was andere Mitpassagiere ins Mobiltelephon sagen, n i c h t zu hören, – auch wenn man es gern würde. So wurde der Rezensent einmal unfreiwilliger Zeuge, als ein scheinbarer Geschäftsmann in mittlerem Alter, mit grauem Anzug und schwarzen Halbschuhen, in sein Telephon sprach: »Hallo Schatz? Ja… Du kannst die Bratkartoffeln jetzt aufsetzen, – ich gehe gerade aus dem Flughafen.«
Auch so gan’s gehen: Ist man endlich im Hotel angelangt, wird einem das Gepäck hinterhergetragen.
Zeichnung von Daniel Müller aus dem Buch von Phillipp Tingler Leichter Reisen
Zeit also für einen weiteren Benimm-Ratgeber von Philipp Tingler, diesmal zum Thema Reisen. Er trägt den Titel »Leichter Reisen – Benimmhandbuch und Ratgeber für Unterwegs«. Das auch gestalterisch gelungene Büchlein ist »Stil zeigen!« von 2008 angelehnt, das wir an gleicher Stelle besprochen haben. Ebenso wie das »Handbuch für Gesellschaft und Umgangsform« (Untertitel) ist auch der neue Band mit den wunderschönen und kongenialen Zeichnungen von Daniel Müller geschmückt.
Der 1970 in Berlin(-West) geborene Tingler seziert die möglichen Strapazen, die einem beim Reisen widerfahren können. Das fängt ja mit dem Gepäck an. Was nehme ich mit? Und vor allem wie viel? Sollte ich mich vorher erkundigen, wie das Wetter am Reiseziel sein wird? Der mehrfach ausgezeichnete Autor rät zu einem Trick: Man sollte alles, was man mitnehmen will, zusammenlegen, beispielsweise aufs Bett. Hat man nach nochmaliger Kontrolle alles zusammen, packt man es wieder in den Schrank und beginnt mit dieser Prozedur nochmal. Das ganze macht man so oft, bis man der Überzeugung ist, das, was da jetzt liegt, sei genug.
Das Buch liest sich leicht und süffisant; es bringt einen an der ein oder anderen Stelle zu herzhaftem Lachen. Dabei ist es ja eigentlich gar nicht komisch: Die Verwahrlosung des öffentlichen Raums, wie der Soziologe sagen würde, das zuweilen ostentative Schlechtaussehen vieler in der Öffentlichkeit. Der Leser, der sich an diesen Dingen ebenfalls stört, findet bei Tingler Trost. Zuweilen allein dadurch, dass der Wahl-Schweizer einige der gröbsten Schnitzer beim Namen nennt. Dazu gehört in Deutschland die Vorliebe von Leuten, die ihren relativen Wohlstand zeigen möchten, für eine bekannte französische Taschenmarke. Leider weiß niemand ihrer Benutzer, dass die eigentliche Idee der Überspannung mit Segeltuch und Bedrucken mit den Initialien von einer wenige Jahre älteren Konkurrenzmarke stammt. Und die heißt Goyard und ist tatsächlich exklusiv.
Der vielreisende Autor plaudert aus dem Nähkästchen – weiß er doch wovon er spricht. Ob es um das angemessene Trinkgeld für den Taxifahrer geht, essentielle Verhaltensweisen im Flugzeug oder in der Bahn, kaum eine Seite des Buches enthält nur Bekanntes und lässt den Leser nicht schmunzeln.
Philipp Tingler spricht die Fragen des Reisenden aus, die sich kaum jemand öffentlich zu stellen traut. Warum darf ich ein Behinderten-Klo nicht benutzen, wenn weit und breit kein Rollstuhlfahrer in Sicht ist? Wieso halten sich in einer freien Wirtschaftsordnung alle daran, das erste Taxi in der Schlange zu nehmen, sei es noch so versifft?
Die Illustrationen des Zürichers Daniel Müller sind die Trüffelung von Text und Gestaltung. Sie unterstreichen den feinen Geist der Ironie, an dem es uns Deutschen häufig so sehr mangelt.
Philipp Tingler, Leichter Reisen. Benimmhandbuch und Ratgeber für Unterwegs. Verlag Kein und Aber, Zürich 2011, 232 Seiten mit zahlreichen farbigen Illustrationen von Daniel Müller, Euro 16,90.
Apr. 15
Hans Könings – Die andere Geschichte
Hans Könings, ohne Titel, aus Die andere Geschichte, 2007
© Hans Könings
Das Bild verstört den Betrachter mit seinen Sehgewohnheiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Keine klare Linienführung. Keine grellen Farben, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Stattdessen steht da eine junge Frau an einer Schiffsrehling. Ihr Blick scheint in die Ferne zu schweifen. Oder schaut sie vielleicht nur zum Ufer und nimmt Abschied? Wenige Anhaltspunkte geben dem Betrachter Hinweise. Die Art der Rehling deutet auf das 20. Jahrhundert, diesen großen nihilistischen Vernichtungssturm. Der nur 15 mal 15 Zentimeter große Linolschnitt verschwindet in tiefem Schwarz. Auch einen Titel, der uns beruhigen könnte, besitzt das Bild nicht.
Grundlage dieses Werkes war eine Schwarz-Weiß-Photographie. Sie verwendet der niederländische Künstler Hans Könings als Vorlage für seine Linolschnitte, die in uns Gefühle, Schlüsselerinnerungen, Ängste wecken, – an ihnen rühren. Durch das hohe Maß an Abstraktion werden wir zur Aufmerksamkeit gezwungen. Bisherige Flüchtigkeit war ja immer so einfach. Hans Könings, 1950 in Den Haag geboren, nimmt uns mit auf seine ganz persönliche Reise zurück in seine Vergangenheit. Nun hat er 49 seiner Arbeiten unter dem Titel »Die andere Geschichte« zusammengefasst. Die Ausstellung in der Salon Galerie Petra Rietz in Berlin läuft noch bis zum 15. Mai 2011. Das Buch unter demselben Titel präsentiert sämtliche 49 Linoldrucke und ist angereichert mit kurzen Texten zum Verständnis des Werkes.
Hans Könings studierte Malerei und Druckgrafik an der Academy of fine Arts Sint-Joost in Breda und an der Jan van Eyck Academy in Maastricht. Er war Professor an der Royal Academy of Fine Arts in Den Haag und Gastprofessor an der Kunstakademie in Düsseldorf und der Academy of Fine Arts in Neu Dehli. Seine Werke finden sich in den Sammlungen mehrerer niederländischer Museen. Seit 2007 lebt und arbeitet in Berlin. Könings verwendet autobiographische Photos, Photos von Flohmärkten oder aus dem Internet, nur zum geringeren Teil eigene Photographien.
Das Buch zur Ausstellung präsentiert die vom Künstler unter diesem Titel zusammengestellten Linolschnitte in adäquat-ansprechender Form und wird damit auch für den Buchliebhaber zum Sammlerstück: komplett in Schwarz gehalten, auf schwerem Papier gedruckt und in aufwendiger Fadenbindung gibt es den außergewöhnlichen Arbeiten einen bibliophilen Rahmen. Die Beiträge zeigen, dass instruktive Erläuterungstexte nicht lang sein müssen.
Die Serie »Junge Männer im Wald«, Teil von »Die andere Geschichte«, beruht auf Photographien von jungen Männern aus dem Jahr 1948, die einen Sommertag im Berliner Grunewald genossen. Hans Könings fand sie verstreut über zwei Monate an verschiedenen Flohmarktständen. Er hat sie vor dem endgültigen Verschwinden gerettet und aus der individuellen Photographie, die doch nur die wenigen Beteiligten interessiert, ein anderes Medium geschaffen. Das Individuelle, das ja jeweils so vergleichbar ist, wird abstrahiert und damit auf eine andere, eine höhere Stufe gebracht. Die Kollektivierung erfolgt nicht banal, sondern durch eine künstlerische Transformation, die den glücklichen Moment im Leben Einzelner uns allen zugänglich macht. Damit rührt Könings an dem Gedächtnis eines jeden Betrachters. Der Abgleich mit eigenen Erinnerungen und Gefühlen erfolgt unweigerlich. Dieser Abgleich läuft auf vielen Ebenen. So mancher Betrachter wird sich selbst sehen auf dem Flohmarkt, wühlend in Kisten mit alten Photos und sich dabei fragend: Was bleibt von meinem Leben? Der natürliche und uns angeborene Voyeurismus führt ihn dabei nicht weiter.
Die Qualität der Bilder von Hans Könings liegt gerade darin, dass sie einen hoch-individuellen Einblick gewähren – und ihn gleichzeitig nicht zulassen. Der Betrachter bleibt auf sein Gedächtnis reduziert. Und so ist auch diese Reflexion eine Folge der wirkmächtigen Werke des Niederländers: Ist unsere Wahrnehmung nicht eh subjektiv-begrenzt? Die Bilder von Hans Könings sind jeweils auf ihre geistige Substanz zurückgebrannt.
Vielleicht sind es die Bilder, die wir im Sterben sehen werden.
Ausslellung noch bis zum 14. Mai 2011 in der
Hans Könings, Die andere Geschichte, herausgegeben von Petra Rietz, Kerber Verlag, Bielefeld 2011, 96 Seiten mit 49 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 28 Euro.
Apr. 11
Edouard Manet im Musée d’Orsey Paris
Edouard Manet, Frühstück im Freien, 1863
Bereits vor ihrer Eröffnung im Pariser Musée d’Orsay wurde sie gefeiert als die bedeutendste europäische Kunstausstellung im Jahr 2011: Das Museum als Besitzer der größten Manet-Sammlung überhaupt, zeigt einen umfangreichen Querschnitt aus dem Lebenswerk von Edouard Manet (1832–1883). Der Maler war nicht nur ein brillanter Zeitzeuge und Portraitist dieser hitzigen Umbruchsperiode. Der Provokateur und Dandy war ein enger Freund von Charles Baudelaire. Der Autor der Blumen des Bösen (die sein Bild Olympia inspiriert hatten) feierte seinen Freund und Bruder im Geiste hymnisch in seinen Kunstkritiken. Manet revanchierte sich durch eine ganze Reihe von Portraits des Schriftstellers und seiner Geliebten.
Das Musée d’Orsay vermeidet den Begriff ‚Retrospektive‘, obwohl wohl sämtliche bedeutenden Bilder Manets in der Ausstellung gezeigt werden. »Manet, Erfinder der Moderne« lautet ihr Titel und wirkt damit ein wenig missverständlich. Manet hat die Moderne nicht erfunden, – aber die Museen fühlen sich scheinbar gezwungen, ihren Ausstellungen Superlative als Titel überzustülpen. Das wäre gar nicht nötig gewesen, weil Manet tatsächlich den Zeitgeist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aesthetisch festzuhalten vermochte. Dazu gehört nicht nur der zuweilen leichte, wie hingeworfene Pinselstrich, der auf Details verzichtet und so auch die Wirklichkeit infrage stellt.
Sowohl Manets Frühstück im Freien von 1863, wie seine im selben Jahr entstandene Olympia sorgten nach ihrem Entstehen für langanhaltende Großskandale; – diese gelten heute als die größten Skandale in der Kunstgeschichte überhaupt. Bei dem Frühstücksbild sitzt eine nackte Frau zusammen mit zwei von den Zeitungen heute als »dandyhaft gekleidet« bezeichneten Männern. Manet hat die 130,5 mal 190 Zentimeter große Frühstücksszene Bild wohl für den Pariser Salon gemalt, aber nicht eingereicht. Manets Olympia bezieht sich zwar auf historische Vorbilder, wie Tizians Venus von Urbino, hat sich jedoch von diesen deutlich emanzipiert.
Der übertrieben wirkende Titel wird dann verständlich, wenn der Betrachter sich auf die Ausstellung eingelassen hat. Kurator Stéphane Guégan sagt zum Ziel der Schau: »Der Besucher soll unvoreingenommen einem Künstler begegnen, der seine Zeit einzufangen wusste«. Misst man dieses hehre Ziel an der Schwierigkeit, unserem kollektiven optischen Gedächtnis eine neue Sichtweise zu ermöglichen, kann man ihr nur gutes Gelingen wünschen.
Edouard Manet, Portraitskizze von Baudelaire
Manet, der Erfinder der Moderne
Musée d’Orsey Paris
noch bis zum 3. Juli 2011
Apr. 06
Sven Marquardt – Heiland
Photo: Sven Marquardt. Aus der Serie Erzengel
© Sven Marquardt
Sven Marquardt stellt seinem neuen Photoband mit dem Titel »Heiland« einen Satz von Oscar Wilde voran:
»Es gibt ein unbekanntes Land voll seltsamer Blumen, ein Land, in dem alle Dinge perfekt und giftig sind.«
Der irische Schriftsteller kannte beide Seiten des Lebens, die helle und die dunkle. Seine Seele war zwiegespalten zwischen Anspruch und Resignation. Hineingeboren in eine Zeit der Umwälzungen, der sozialen Ungerechtigkeiten, fühlte er sich seiner mediokren Umwelt und seiner ganzen Zeit überlegen. Oscar Wilde wurde zum größten Dandy des 19. Jahrhunderts, weil er als Anwalt ästhetischer und ethischer Prinzipien fungierte. Als Anwalt einer im viktorianischen England seiner Zeit für überholt gehaltenen Formsprache.
Heiland ist der deutsche Ehrentitel für Jesus Christus, – den Erlöser. So versammelt der Berliner Photokünstler Sven Marquardt eine Reihe von Erzengeln in seinem Band. Doch entsprechen sie wohl kaum landläufiger Vorstellungkraft: Sie sind häufig tätowiert, tragen ein Beil in der Hand oder, sind blutverschmiert an Werkbänken oder im Schlachthof. Apokalypse und Dandytum, Rausch und fatalistische Revolte, all das ist enthalten in den manischen Photographien des Berliners.
Die Boulevardzeitungen bezeichnen Marquardt als berühmtesten und härtesten Türsteher Berlins, ist er doch seit Jahren in dieser Funktion für den Techno-Club Berghain tätig. Immerhin hat er es selbst hierin zum Prominenten gebracht. Sogar von der Zeit erreichen ihn nun Interviewanfragen. Und dann die Mischung: Photograph und Türsteher, da müssen die Medien natürlich anbeißen. Bereits in der DDR arbeitete er als Photograph; er war bei der Defa und gehörte der sogenannten Prenzlauer Berg-Bohème an, die es heute nicht mehr gibt. Heute wird in diesem Berliner Bezirk vorwiegend Schwäbisch gesprochen und mit den Eltern Sonntags gebruncht.
Der Band versammelt Bilder aus drei verschiedenen Serien, die Marquard jeweils im Auftrag für den Laden der US-amerikanischen Jeansmarke Levis in Berlin-Mitte produzierte. Die erste Serie mit dem Titel »Erzengel« präsentiert Levis-Kleidung, die sich an alte Handwerksberufe anlehnte. Die zweite Serie zeigt Replica-Bekleidung der US-Marke (»Gefallen«), und die dritte aus dem Jahr 2009 trägt den Namen »Shame on you«. Hauptmotiv hier sind Replikate von Sträflingsbekleidung der 1930er-Jahre.
Verwirrend ist, dass weder im Titel des Bandes noch in einer Vorbemerkung ein Hinweis darauf gegeben wird, dass es sich bei den Photos um Auftragsarbeiten für Levis handelt. Dies schmälert jedoch nicht ihren künstlerischen Rang. Die Werbephotos haben einen ästhetischen Wert, der weit über ihren ursprünglichen Auftragszweck hinausweist. So spricht es für das künstlerische Niveau des Bandes, dass dem Betrachter der Photographien das Vorherrschen von Jeans zunächst gar nicht auffällt.
Sven Marquardt, Heiland. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011, 104 Seiten auf Photopapier, 32 Euro.
Photo: Sven Marquardt. Aus der Serie Gefallen
© Sven Marquardt
Photo: Sven Marquardt. Aus der Serie Shame on you
© Sven Marquardt
Hier geht’s zur Seite von Sven Marquardt
Noch bis zum 21. April läuft in Berlin die Ausstellung Sven Marquardt – Portraits
GALERIE Pixel Grain
Rosenstr. 16/17, 10178 Berlin
T +49 (0)30 3087870
mail@pixelgrain.com
www.pixelgrain.com
Öffnungszeiten: Mo-Fr 10-19 Uhr, So 14-19 Uhr
Apr. 06
In Picassos Atelier
Gustave Courbet, Das Atelier des Künstlers, 1855
Picasso. Im Atelier des Künstlers. Katalog zur Ausstellung im Graphikmuseum Pablo Picasso Münster 2010.
Hirmer Verlag, München 2010, 247 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 34,90 Euro.
Das Atelier ist für den Künstler der wichtigste Raum. Hier verbringt er nicht nur seine meiste Lebenszeit. Das Atelier ist Brutstätte und Geburtsort seines Schaffens. Ort der Kontemplation und Meditation. Zugleich ist es aber auch eine Art sozialer und künstlerisch-biologischer Zelle: Nur bestimmte, in der Regel wenige und sehr sorgfältig ausgewählte Besucher werden hereingelassen. Ihnen wird ein Einblick in das Intimste des Künstlers gewährt. Selektierte Werke werden verschenkt. Galeristen der Zugang eher verwehrt. Moderne Zuspitzung und ironische Steigerung auch hierin: Andy Warhol. Er ließ nicht nur seine Siebdrucke fabrikmäßig produzieren. Zum Ende seines Lebens gründete er auch eine Factory nach der anderen, um den Anschein von künstlerischer Exklusivität zu ersticken.
Picasso war ein ganz besonderer Meister des Atelierbildes. Filigran nutzte er dessen geistig-spirituelle und ironische Möglichkeiten, was einen eigenen Blick auf dieses Genre des Spaniers sinnvoll macht. Den tat 2010 das Graphikmuseum Pablo Picasso Münster mit einer Ausstellung, deren Substanz in dem Katalog festgehalten ist. Für Picasso typisch, entäußert er sich auch in seinen Atelierbildern nicht plakativ. Statt bekenntnishaftem Pathos frönt hier das süffisant-komische Vexierspiel, – in der Hoffnung, dass der Betrachter es erkennt. Ein Höhepunkt sind vielleicht die Bilder, in denen der Frauenheld seine aktuelle Herzensdame portraitiert und dabei auf demselben Gemälde ein Abbild einer vorherigen Geliebten mit einbaut. In dem Bild Frau im Atelier vom 6. April 1956 konfrontiert er seine letzte Ehefrau Jacqueline mit ihrer Vorgängerin Françoise Gilot – in Form der Skulptur Die schwangere Frau, die ihr frontal gegenübersteht. Ein Hinweis des Mannes auf den antizipierten Wunsch der Frau nach Kindern?
In den letzten Jahrzehnten seines Lebens setzte sich Picasso verstärkt mit bedeutenden Malern der Vergangenheit auseinander. Ein Resultat war 1970 gleich eine ganze Serie von Radierungen, die berühmte Bilder aufnehmen, zitieren. Picasso wiederholt die archetypische Atelierdisposition des nackten weiblichen Modells, das seitlich vor der Leinwand steht. Diese hatte Gustave Courbet in seinem Bild Das Atelier des Malers von 1854/ 55 dargestellt. Auf der Leinwand bei Picasso ein gutes Jahrhundert später findet sich eine parodierte Fassung des Bildes Frühstück im Freien von Edouard Manet.
In Picassos Spätwerk bekommen die Schilderungen seines Atelier-Lebens andere Züge: Die Familie wird mit eingebunden, stellt häufig sogar den Mittelpunkt des Bildes dar. Nun entstehen Atelierbilder, die von dem liebevollen Umgang seiner Frau mit den Kindern zeugen oder von Picassos Engagement der Vermittlung von künstlerischen Fertigkeiten an seine Kinder.
Schwerpunkt jedoch bleibt der selbstkritisch-ironische Blick des Künstlers auf sich selbst. Wie bei einem dritten Auge, sucht der Maler Abstand zu sich und seinem Schaffen zu finden. So dienen die Atelierbilder schließlich auch der Verdeutlichung der Verhältnisse. Des Verhältnisses zwischen sich und dem Objekt. Zwischen sich und dem entstehenden Werk, der Kunst überhaupt. So können Picassos Bilder, bei denen ein Affe an der Staffelei sitzt, als selbstreflektierende Ikonographien zu der eigenen Begrenztheit gelesen werden.
David Douglas Duncan, Picasso beim Malen von Jacquelines Porträt,
La Californie, Cannes, Juli 1957
Pablo Picasso, Der Maler, Büste im Profil, 1967
Pablo Picasso, Zeichner und Modell, 25. Januar 1971