Szczepan Twardoch: Kälte

Der neue Roman von Szczepan Twardoch
erscheint bei Rowohlt Berlin





Szczepan Twardoch: Kälte
Roman aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Rowohlt Berlin, 432 Seiten, 26,- €.
Erscheinungstermin: 16.04.2024

Der Schriftsteller Szczepan erhält auf einem Boot von einer alten Seefahrerin das Tagebuch von Konrad Widuch. Dessen Lebensschilderung beschreibt die Grausamkeiten und Wirrnisse der stalinschen Sowjetunion, die Irrungen eines jungen Kommunisten mit Lager, Flucht, Verfolgungen. Szczepan Twardochs neuer Roman Kälte ist ungefiltert grausam. Eine Lehrstunde der Geschichte des östlichen Europa im 20. Jahrhundert.

Szczepan Twardoch beginnt seinen neuen Roman mit einer Vorrede, in der er beschreibt, dass im Sommer 2019 für ihn einmal wieder der Zeitpunkt gekommen war, die Zivilisation für eine gewisse Zeit zu verlassen. Er fliegt nach Spitzbergen, wo er in einer Bar eine ältere Frau kennenlernt. Die lädt ihn ein auf ihr Boot, um mit ihr mitzusegeln. Nach kurzer Zeit übergibt sie ihm die Tagebuchaufzeichnungen von Konrad Widuch.

Der Roman Kälte ist kastenartig aufgebaut. Eingeleitet und abgeschlossen durch einen autobiographisch anmutenden Rahmen ist der größte Teil des Buches das Tagebuch des Konrad Wilgelmowitsch Widuch, wie er sich selbstironisch nennt. Als 14-jähriger brach er aus seinem schlesischen Dorf auf; er hatte zu Hause nichts zu gewinnen: Der Vater war eh abgehauen, und seine Mutter verachtete er zutiefst. Er ging zunächst ins Ruhrgebiet und verdiente seinen Lebensunterhalt als Bergmann. Dann trat er in die Kaiserliche Kriegsmarine ein, was ihn 1918 am Matrosenaufstand teilnehmen lies. Sein Leben ist geprägt von grenzenloser Gewalt – gegen sich und andere. Er nimmt teil an den Greueltaten der Reiterarmee Budjonnys, dem Bürgerkrieg in Russland. Stalins Säuberungen innerhalb der bolschewistischen Bewegung bringen ihn in ein Arbeitslager nach Sibirien.

Widuch beginnt das Tagebuch zu schreiben während der Flucht aus dem Gulag im Jahr 1946. Er flieht zu Fuß und auf dem Pferd auf dem Eis. Twardoch verwendet Eis und Kälte als Metaphern für eine emotionslose, ungerechte Welt. Eine Welt, in der für Illusionen oder Gefühle kein Platz ist. Statt Nähe gibt es nur Sklaverei. Statt körperlicher Zärtlichkeiten kennt er Vergewaltigung und Missbrauch. Ausgiebige Rückblenden führen dazu, dass die Lektüre stets changiert zwischen historischen Erlebnissen und reiner Fiktion.

Widuch reflektiert sein Handeln permanent selbst. Er hackt einem Dieb, den er auf seiner Flucht im Eis mitnimmt, die Hände ab, damit dieser ihm nicht mehr schaden kann. Weil der nun sehr stark blutet, bindet er ihm die Unterarme ab: – schließlich könnte er ihn ja notfalls essen. Kurz darauf sagt er in seiner Zerrissenheit, dass man Menschenfleisch nicht esse, das sei ja Kannibalismus.

Szczepan Twardoch ist inspiriert von Joseph Konrad, von dem er die verdrehte Erzählstruktur übernommen hat. Das macht einerseits die Lektüre zuweilen ein wenig anstrengend. Andererseits sind es die Selbstironie des Tagebuch-Autoren und die ungeheure sprachliche Finesse von Twardoch, die die Erzählung auflockern und lesbar werden lassen.

© Matthias Pierre Lubinsky 2024

Robert Lebeck – Hierzulande

Robert Lebeck – Hierzulande
192 Seiten mit 170 großformatigen Schwarz-Weiß-Abbildungen
Gebunden, Steidl-Verlag 2023, 35 €.




Robert Lebeck (1929 – 2014) war einer der bedeutendsten Photo-Reporter der Bundesrepublik Deutschland. Seine Aufnahmen von Willy Brandt, Konrad Adenauer oder Alfred Hitchcock prägten das Bild dieser Persönlichkeiten in der alten Bundesrepublik. Das Photo-Buch Robert Lebeck – Hierzulande versammelt ein gutes Dutzend seiner bedeutendsten Photo-Reportagen.


Romy Schneider während der Dreharbeiten zum Film „Gruppenbild mit Dame“ des Regisseurs Aleksander Petrovic, Berlin 1976






Robert Lebeck hatte ein besonderes Talent. Er konnte Menschen aus nächster Nähe photographieren, ohne ihnen zu nahe zu treten. Er begab sich auf öffentliche Veranstaltungen, um Politiker oder berühmte Künstler abzulichten. Meist wussten sie, dass sie photographiert weden – und setzten ihre professionelle Miene auf. Aber auch ‚normale‘ Menschen wurden vom empathischen Presse-Photographen in ihrem alltäglichen Leben festgehalten. Lebeck gelang es dabei, besondere Momente festzuhalten.



In den Dünen von Kampen. Sylt 1962




Die Reportagen des Buches sind aus Deutschland zwischen 1955 und 1983. Beim Duchblättern des Bandes sagt man sich bei dem ein oder anderen Photo: Ah, diese berühmte Aufnahme ist also auch von Robert Lebeck. So zum Beispiel bei Alfred Hitchcock oder Konrad Adenauer. Lebeck begleitete den britischen Regisseur 1960 in Hamburg, als dieser einen neuen Film präsentierte. 1962 photographierte er die so genannten Schönen und Reichen in Kampen auf Sylt, was zu einer horrenden Spesenrechnung für das Magazin Stern führte.


Willy Brandt im Speisewagen eines Sonderzuges während einer offiziellen Reise durch Deutschland, 1973.





Sämtliche der hier dokumentierten Reportagen sind legendär: Zum ikonischen Gedächtnis wurden die Portraits von Elvis Presley, entstanden 1958 in Friedberg oder die von Günter Grass auf Wahlkampfreise 1965 für Willy Brandt.

Ein Band, der in keiner Photobuch-Sammlung fehlen sollte. Wie gewohnt vom Steidl-Verlag in hervorragender Druck- und Binde-Qualität.




The Tellers – Auguri

Die Tellers stimmen sich ein auf ihre Ehe
© Juergen Teller 2022




Juergen Teller/Dovile Drizyte: Auguri
288 Seiten, 274 Abbildungen in Farbe
Steidl Verlag 2022, 38 €.




»Ich gehe nicht zu Hochzeiten« antwortete Karl Lagerfeld einmal auf die Frage eines Reporters. Und weiter: »Ich komme zur Scheidung!« Damit machte der große Dandy seine Gleichgültigkeit gegenüber diesem Ritual deutlich, das ja in der Regel nur zur Selbstinszenierung von Langweilern dient.

Dass es auch anders geht, bewiesen der deutsche Photograph Juergen Teller und die Italienerin Dovile Drizyte. Bereits die Hochzeitseinladung hatte Stil: »Wir bauen zusammen unsere Zukunft«, stand da.Handgeschrieben und mit einem Photo der beiden. Dieses Motiv, das Liebespaar bekleidet mit Schutzhelmen und Sicherheitswesten auf einer Baustelle in Neapel, gab die Stimmung vor: Verliebt, feierlich, respektlos und ein wenig exhibitionistisch.



© Juergen Teller 2022





Das Photobuch Auguri ist das visuelle Tagebuch der Hochzeit von Juergen Teller und Dovile Drizyte. Angefangen vom Location-Scouting, über diverse Baustellen-Rangeleien reicht die Story bis zur Willkommensparty auf der Dachterrasse mit Blick über den Golf von Neapel und den Vesuv. Die Stimmung ist wahrlich ausgelassen; – das sieht man den Gästen an. Die Photos vermitteln einen Eindruck davon, dass es sich hier um keine dieser piefig-langweiligen Ego-Partys handelte.


© Juergen Teller 2022




Dass diese Hochzeit auf einem gewissen Niveau stattfand, bewiesen die Gastgeber auch dadurch, dass sie beim feierlichen Abendessen jedem einzelnen Gast ein Geschenk machten, einen signierten Keramikteller, bedruckt mit einem Motiv aus der Serie Wir bauen zusammen unsere Zukunft. Entstanden ist als Andenken an alle, die dabei sein durften und an alle anderen ein witziges, skurriles Photobuch, das schlicht animiert, schöne Partys zu machen, mit tollen Menschen zu feiern und das Leben stilvoll zu genießen.

Der DANDY-CLUB sagt dem Brautpaar: Herzlichen Glückwunsch!

The Rebel’s Wardrobe

The Rebel’s Wardrobe erschien
im Gestalten Verlag





The Rebel’s Wardrobe trägt den unschuldigen Untertitel The Untold Story of Menswears’s Renegade Past. Dabei ist der großformatige Bildband nichts weniger als ein Handbuch zu den ikonischen Essentials in des Mannes Kleiderschrank.




Welcher Mann hat nicht die bedeutenden Ikonen der westlichen Mode seit Ende des Zweiten Weltkriegs im Kleiderschrank? – Einige haben sogar vielleicht gar nichts anderes zum Anziehen. Five-Pocket Blue Jeans, weißes T-Shirt, Jeans-Jacke, Flanellhemd. Wer BWL studiert hat, trägt Polo-Shirt, wer gern am Meer Urlaub macht, liebt das bretonische Seemanns-Shirt.

Was uns Kerlen (und manchen Ladies) zum selbstverständlichen Griff in den Kleiderschrank geworden ist, hat jedoch jeweils eine Geschichte. Das Buch The Rebel’s Wardrobe aus dem Gestalten Verlag präsentiert 41 der bedeutendsten und bekanntesten Kleidungsstücke. Die Texte sind kurz und informativ. Hervorzuheben sind die kongenialen Photos, die die Texte begleiten und uns so manchen Aha-Effekt bieten. Wer weiß denn schon, dass es Marlon Brando gewesen ist, der in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts das T-Shirt zusammen mit der Blue-Jeans so konsequent getragen und mit seiner Rolle des ewigen Rebellen verbunden hat. Bedeutende Künstler, die heute als Stil-Ikonen angesehen werden, finden in dem Buch ihren gebührenden Platz: Steve McQueen, Sean Connery und Bryan Ferry neben vielen anderen.



Das bretonische Seemanns-Shirt wurde
nicht nur von Picasso gern getragen
© Illustration Florian Bayer, The Rebel’s Wardrobe, Gestalten 2022





Die informativen Texte (auf Englisch) stammen von Thomas Stege Bojer. Er ist der Gründer von Denimhunters, einer Online-Plattform über Alltags-Menswear, bei der die Jeans zweifellos im Fokus steht. Sein Buch macht deutlich, dass, damit ein Kleidungsstück es zur Ikone schaffen kann, eine echte Geschichte dahinter nötig ist. Interessant ist, dass die heutigen Klassiker häufig gar nicht für die Bekleidung im Alltag gedacht waren. Vielmehr wurden sie häufig für das Militär (die berühmte M65)  entworfen, die Luftfahrt (Lederjacken) oder als Arbeitskleidung (Latzhose, Arbeitsstiefel). Ihren Weg in den Mainstream fanden viele Stücke durch eine rebellische Jugendkultur, wie die Rocker, Mods, Punks oder andere.



Die klassische Motorrad-Lederjacke
© Illustration Florian Bayer, The Rebel’s Wardrobe, Gestalten 2022





The Rebel’s Wardrobe
The Untold Story of Menswears’s Renegade Past.
Gestalten Verlag 2022, 288 Seiten, geb. 50,- €.


Simon Strauß – Zu zweit

Das Seine-Hochwasser in Paris von 1910
in einer zeitgenössischen Ansichtskarte





Simon Strauß: Zu zweit. Novelle
Tropen Verlag, 1. Auflage 2023, 160 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, 22 €.




Ich bin nie ehrgeizig gewesen, aber es war dennoch ein unerfreuliches Gefühl, nichts, aber auch gar nichts auf dem einzigen Gebiet vollbracht zu haben, das mich auf Dauer interessierte. Es gibt Zeiten, in denen man für Augenblicke vergißt, daß der Wert des Lebens das Leben selbst ist und jedes andere Ziel im Vergleich damit von sehr geringer Bedeutung.
Robinson Jeffers




Simon Strauß‘ bereits erschienene zwei Romane sind hochgelobt worden und wiesen den 1988 geborenen Autoren als belesen und geschichtsbewußt aus (Sieben Nächte, 2017, Römische Tage, 2019). Seine neue Novelle Zu zweit ist intensiv und bringt uns an unser Verhältnis zu den Dingen und Menschen.




Der Verkäufer. In der Novelle gibt es nur zwei Personen. Er ist Teppichverkäufer. Hat einen eigenen Laden, den er vom Vater übernommen hat. Er ist allein, ohne Frau, ohne Freunde. Er spricht nicht gerne. Mit Menschen. Das läßt ihn anderen gegenüber als merkwürdigen Kauz erscheinen. Seinem Geschäft ist das nicht gerade zuträglich. Obwohl: Er spricht schon, aber lieber mit Dingen als mit Menschen. Er nimmt alle Dinge intensiv wahr und versucht, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Innerlich spricht er mit seinen Teppichen, wenn er zärtlich mit der Hand über sie streicht.

Ihm ist, als trüge das Ding ein Geheimnis mit sich herum und leide daran, es niemandem erzählen zu können.




Die Flut. Sie bricht plötzlich und unvorhergesehen herein. Sie ist das Ereignis, das sein so felsenfest eingerichtetes und vorherbestimmtes Leben komplett aus den Angeln hebt und infrage stellt. Erst als er aus seiner kleinen Dachkammer geht, bemerkt er, daß die gesamte Stadt überflutet ist: Autos schwimmen auf ihren Dächern, der Strom ist ausgefallen – und keine Menschenseele ist mehr zu sehen.


Die Novelle von Simon Strauß erschien im Tropen Verlag





Die Vertreterin. Sie ist das genaue Gegenteil von ihm: Extrovertiert, ohne Unterlass am Reden, hat sie von ihrer Mutter gelernt, daß nur, wenn sie permanent zur Unterhaltung der anderen dient, das Leben sie beachtet. Als es eines Tages in Strömen regnet, betritt sie seinen Teppich-Laden. Eigentlich nur, um ins Trockene zu gelangen. Nachdem sie nach einer halben Stunde so plötzlich wieder verschwindet, wie sie gekommen war, kann er sie nicht mehr vergessen und tut alles, um sie wiederzusehen. Wie der Verkäufer bleibt auch die Vertreterin während der gesamten Erzählung namenlos.

Die Vertreterin lebte mit dem beruhigenden Gefühl, umgeben von lauter Möglichkeiten zu sein. Kinder kriegen, Häuser bauen, Bäume pflanzen … nichts davon interessierte sie. Während die anderen ihre Hochzeiten planten, während sie verreisten, Kleider kauften und Weine verkosteten, wartete sie gespannt darauf, was als Nächstes passierte.




Während die Flut auf dem Höhepunkt ist, treffen die beiden wieder aufeinander. Es entsteht eine skurril-apokalyptische Situation, in der die zwei so Grundverschiedenen versuchen, sich zusammenzutun, zu überleben. Dabei studieren sie sich gegenseitig…




Simon Strauß geht es um die Frage, ob die Dinge, die uns alltäglich umgeben, nicht tatsächlich uns etwas zu berichten haben. Die Häuser, Straßen, ja selbst ein Brückenpfeiler, an dem wir jeden Tag vorbeifahren, sie alle haben viel erlebt. Sind teils viel älter als wir. Sollten wir ihnen mehr zuhören?




Auf einer zweiten Ebene thematisiert die Novelle die Frage unseres Zusammenseins, -kommens. Ist es ein Zufall, der ein Paar sich verbinden läßt? Warum heiraten wir gerade diesen Menschen? Haben wir ihn uns bewußt gewählt? Hat das Leben ihn uns zugeführt? Simon Strauß‘ Novelle ist herausragend. Sie bringt uns an unsere Ur-Gründe, die wir so gern im Alltag beiseite schieben.

© Matthias Pierre Lubinsky 2023

G. K. Chesterton – Die Bäume des Hochmuts

Gilbert Keith Chesterton (1874-1936)





Der britische Schriftsteller und Journalist G. K. Chesterton ist in Deutschland – wenn überhaupt –bekannt als Autor der Kriminalromane mit dem Protagonisten Father Brown. Dabei verstand sich der streitbare Autor vor allem als Journalist und schrieb daneben etwa 100 Bücher. Der Steidl Verlag veröffentlicht nun zum ersten Mal in Deutsch Die Bäume des Hochmuts – eine Kriminal-Erzählung, die jedwede Erwartung des Lesers unterläuft.




Der Plot. Squire Vane lebt mit seiner Tochter Barbara an der Steilküste von Cornwall. In einem Wäldchen zum Meer hin erheben sich drei Baumkronen eines Pfauenbaums. Die Leute der Gegend wissen alles Mögliche und Unmögliche über diesen unwirklich wirkenden Baum zu erzählen. Jeder der Nachbarn hat eine eigene Geschichte parat. Man sagt, in der Nähe des Baumes würden Menschen spurlos verschwinden. Ein Einwohner weiß, der Baum würde Menschen essen. Squire, ein rein rationaler Mann, der sowohl religiösen Glauben wie auch Aberglauben strikt negiert, lädt nach einer lebhaften Diskussion mit einigen Frühstücksgästen, diese dazu ein, die folgende Nacht unter diesem angsteinflößenden Baum zu verbringen. So finden sich neben ihm und seiner Tochter noch ein Arzt, ein Poet und ein Anwalt ein, um dem phantastischen und bislang nicht tot zu kriegenden Gerüchtespuk ein Ende zu setzen. Dann passiert etwas Erstaunliches…


G(ilbert) K(eith) Chesterton (1874–1936) wurde im Londoner Stadtteil Kensington geboren. Zuerst studierte er Malerei an der Slade School of Art. Zu seiner wahren Berufung, dem Schreiben, musste er förmlich überzeugt werden: Als er von befreundeten Journalisten aufgefordert worden war, Artikel zur Kunstkritik zu verfassen, hatte er schlagartig seine Profession gefunden. 1902 erhielt Chesterton eine wöchentliche Kolumne in der Daily News, dazu kam 1905 eine weitere wöchentliche Kolumne in The Illustrated London News, die er schließlich 30 Jahre lang schreiben sollte.


Chesterton wog bei einer damals stattlichen Größe von 1,93 Meter um 134 Kilogramm. Seine Körperfülle ist überliefert durch eine berühmte Anekdote: Zu seinem Freund George Bernard Shaw soll Chesterton gesagt haben: „Jeder, der dich ansieht, würde denken, dass es eine Hungersnot in England gäbe.“ Worauf Shaw zurückgab: „Wenn man dich ansieht, glaubt man, dass du sie verursacht hast.“


G. K. Chesterton wurde einer der erfolgreichsten und produktivsten Schriftsteller aller Zeiten – nicht nur in England. Die Bäume des Hochmuts hat der Göttinger Steidl Verlag erstmals ins Deutsche übersetzen lassen von Andreas Nohl. Es erscheint in der Reihe Steidl Nocturnes, in der noch andere besondere Erzählungen in gleicher Ausstattung zu entdecken sind, die die Nacht schlaflos werden lassen: So unter anderen von Virginia Woolf, Marcel Proust oder Nikolai Gogol.

© Matthias Pierre Lubinsky 2022




C. K. Chesterton: Die Bäume des Hochmuts
Herausgegeben und aus dem Englischen von Andreas Nohl.
Gebunden in Leinen, mit Leseband.
Steidl Verlag, Göttingen 2022, 18 Euro.

Nicholas Pollack – Meadow

Nicholas Pollack, Dominoes (night), Secaucus, New Jersey, 2019
©2022 Nicholas Pollack






Secaucus ist ein gottverlassener Ort im US-Bundesstaat New Jersey. Im Jahr 1900 von Einwanderern gegründet, scheint dies unwirkliche Fleckchen Erde im Nordosten der USA, obwohl gar nicht so weit von der Metropole New York City entfernt, nun von der Zivilisation und ihren Versprechungen von immerwährendem Wachstum im Stich gelassen.



Der US-amerikanische Photograph Nicholas Pollack hat zwischen 2015 und 2020 die Landschaft zwischen dem Hakensack-River und dem Mill Creek photographiert. Neben der Landschaft liegt der Fokus seiner dokumentarisch anmutenden Aufnahmen auf Truckern. Sie machen am Rande der Straße auf einem schlammigen Parkplatz Pause. Sie kochen, quatschen – und versuchen offensichtlich, der armseligen Situation Leben abzutrotzen.



Nicholas Pollacks Farbphotos in seinem im Hirmer Verlag, München, erschienenen Buch Meadow stehen in der Tradition der klassischen Dokumentar-Photographie. Zugleich sind sie lyrische Hymnen an das Leben, an die Kameradschaft. Und an die Rückseite der bunten Wohlstandswelt.



Der wohl gestaltete Photoband wird ergänzt durch instruktive, kurze Texte auf Englisch. Der Literaturprofessor William Shullenberger informiert in seiner lesenswerten Einführung über die dokumentierte Wiesen- und Marschlandschaft, wo sich Süß- und Salzwasser mischen. Bei seinem ersten Aufenthalt als Kind Ende der 1970-er Jahre hätte er buchstäblich gedacht, nun sei er am Ende der Welt. John G. Stilgoe von der Harvard University analysiert im Schluss-Text des Buches das Wort ‚meadow‘ mit seiner Abstammung und seinen Bezügen.



Nicholas Pollack dokumentiert in seinen etwa 50 Photos das Überleben von Menschlichkeit in einer Zwischenwelt, auf die kein Glitzer fällt.

© Matthias Pierre Lubinsky 2022




Nicholas Pollack – Meadow
Mit Texten von William Shullenberger, John Stilgoe, Yi-Fu Tuan
Text: Englisch
120 Seiten, 51 Abbildungen in Farbe
Format: 21 x 25,5 cm, Leineneinband mit eingefügter Fotografie

Hirmer Verlag, München, 2022
ISBN: 978-3-7774-3994-5
35,00 €

Zehn Gründe, Proust zu lesen

Marcel Proust (1871-1922). Schöpfer der Recherche






Aus Anlass des 100. Todestages von Marcel Proust hier zehn Gründe, warum jeder halbwegs intelligente Mensch Prousts Hauptwerk, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu) gelesen haben sollte.




  1. Die Recherche, wie der Roman von seinen Liebhabern genannt wird, verändert Ihr Leben. Tatsächlich. Am Anfang merkt man das noch nicht. Hat man aber einige hundert Seiten absolviert oder vielleicht sogar die ersten der insgesamt sieben Teile gelesen, so wird einem allmählich gewahr, dass man die Reflexionen des Autors einerseits schätzt und andererseits mit eigenen Wahrnehmungen beginnt abzugleichen. Dann sagt man sich als Leser: Verdammt, die Erfahrung habe ich auch gemacht. Nur hätte ich es nicht so formulieren können.


  2. Aus diesem und vielen vielen anderen Gründen empfehlen wir, tatsächlich zu versuchen, den GESAMTEN Roman zu lesen. Um auf den Geschmack zu kommen, kann man sich durchaus zuvor ein wenig Lust holen, indem man in einem beliebigen Band blättert und einfach ersteinmal drauf los liest. Der Gewinn der Gesamtlektüre liegt aber gerade darin, dass Proust ein zeitlich-philosophisches Epos entwirft. Über hunderte von Seiten wird der Leser in ihren Bann gezogen und sinkt in die Welt Prousts ein…Es ist wie ein poetischer Traum.



    Ein Leben ohne Proust ist ein Leben des Mangels. (Jean Améry)



  3. Umso weiter Sie als Leser im Text kommen, desto stärker werden Sie alsbald feststellen, dass Sie beginnen, Ihren Alltag, Begegnungen, Gespräche, aber auch Ihre Vergangenheit anders zu reflektieren. Wir versprechen: Diese Lektüre erhöht Ihre Aufmerksamkeit und lenkt Ihre Gedanken auf Wesentlicheres.


  4. Haben Sie erst einmal mit der Lektüre dieses bedeutenden Werkes begonnen, so werden Sie sobald nicht mehr aufhören können. – Siehe 2. Sie werden das Buch möglichst überall hin mitnehmen. Sie wollen die Lektüre nicht unterbrechen. Irgendwann erwischen Sie sich, dass Sie sich für einige Tage krank melden, um die Recherche weiterlesen zu können.


  5. Proust infiziert. Bald werden Sie Ihren Freunden, Bekannten oder Kollegen mit groß aufgerissenen begeisterten Augen von Ihrer Leseerfahrung berichten – nein vorschwärmen. Und das ist auch gut so. So werden die Proust-Leser immer mehr.



    Manche Menschen verbringen ihr Leben mit nichts anderem, als Proust zu lesen. Das ist kein schlechtes Leben.
    (Michelle Houellebecq)




  6. Das Lesen von ungeheuren Bandwurmsätzen ist anfänglich wirklich anstrengend. Aber: Übung macht den Meister. Nach einiger Zeit merken Sie, dass Sie ein wenig müde sein können oder dass Ihre Kinder Lärm machen. Nur das stört Sie irgendwann nicht mehr. So schult die Recherche Konzentration und Sprachbewusstsein.


  7. Proust gibt uns die Gelegenheit, unser oberflächliches Leben im Mäuserad hinter uns zu lassen. Verlassen Sie die Spaßgesellschaft und widmen Sie sich einer Lektüre, die hilft zu sich zu kommen. Proust lesen heißt, bewusster zu werden.


  8. Liest man die Recherche konzentriert, so wird man zum Ergebnis kommen, dass es hier nicht um eine wie auch immer geartete Trauer wegen der Vergänglichkeit geht. Proust erschafft nicht eine dichterische Verdichtung von Wirklichkeit – sondern deren Auflösung!


  9. Nicht zu vernachlässigen ist, welcher Übersetzung man sich widmet. Es werden besonders günstige E-Books angeboten, deren Crux ist, dass deren Übersetzer nur wenige Bände ins Deutsche transferiert haben. Man sollte unbedingt zu einer Übersetzung greifen, die KOMPLETT vorliegt. Wir empfehlen diejenige von Eva Rechel-Mertens. Noch besser in der Revision von Luzius Keller (Frankfurter Ausgabe).


  10. So. Nun los!

© Matthias Pierre Lubinsky 2022

Marcel Proust – 100. Todestag


Marcel Proust (1871-1922)





Heute, am 18. November 2022 jährt sich der Tod von Maecel Proust zum 100. Mal. Proust gilt mit seinem etwa 4.200 Seiten umfassenden Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu) nicht nur als einer der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts. Die – von Bewunderern liebevoll als Recherche bezeichnete – Folge von sieben Büchern ist ein dichtes Sittengemälde von Leben und Personen von Adel und Bourgoisie Frankreichs zum Anfang des 20. Jahrhunderts.

Dieser grandiose Roman, ein nicht enden wollendes Universum einer vergangenen Zeit, die der Ich-Erzähler Marcel aus der Erinnerung schildert, scheint heute aktueller denn je. Kein Wunder, herrscht doch gerade weitestgehende Orientierungslosigkeit im Privaten wie Gesellschaftlichen.

Mehr über Mercel Proust beim DANSY-CLUB:
https://www.dandy-club.com/category/marcel-proust

Es erscheinen teils hoch interessante Bücher, die Marcel Proust in einer jeweils neuen, bislang ungewürdigten Facette würdigen. Hier nur zwei der wichtigsten Neuerscheinungen:



Proust von Roland Barthes




Besonders ans Herz möchten wir legen Proust von Roland Barthes. Ein Zeugnis einer lebenslangen Auseinandersetzung und kritischen Analyse von Prousts Werk und Leben durch den Pariser Semiologen Roland Barthes. In den bislang schon bei Suhrkamp erschienenn Büchern, wie den hoch interessanten Vorlesungen, taucht Proust immer wieder auf. Hier nun sind (endlich) zentrale Texte vom Post-Strukturalisten über Proust versammelt: Zeitschriftenbeiträge, Vorlesungen und Vorlesungsnotizen und eine Auswahl aus Barthes’ fast 3000 hinterlassenen Karteikarten zu Proust.

Ein Ereignis nicht nur für Proustianer!


Roland Barthes: Proust.
Aufsätze und Notizen.
Herausgegeben von Bernard Comment. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, 28,- Euro. Erscheinungstermin: 21.11.2022.







Isenschmids Essay erschien bei Hanser




Der Literaturkritiker Andreas Insenschmidt beleuchtet in seinem gerade eben erschienen Essay das Jüdische bei Proust.

Der in Berlin lebende Isenschmid sieht die Recherche als jüdisch „von der ersten Zeile der Entwürfe bis zum letzten Zettelchen aus der Todesnacht“. Die Dreyfus-Affaire nimmt in dem Roman breiten Raum ein, – vielmehr die Debatten darüber in den Salons und die Kämpfe von Dreyfus-Gegnern und -Befürwortern.


Andreas Isenschmid: Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische.
Hanser Literaturverlage 2022, 26,- Euro,



Matthias Pierre Lubinsky


Puschkin in Quarantäne

Das wohl gestaltete Bändchen der Friedenauer Presse






Alexander Puschkin (Puškin), Rosemarie Tietze (Hg.):
Puschkin in Quarantäne
113 Seiten, Broschur mit Schutzumschlag.
Friedenauer Presse 2022, 22 Euro.




Das Jahr 1830 war für Alexander Puschkin ein außergewöhnliches: Seine Angebetete gibt ihm endlich das Jawort, die Cholera zwingt ihn zu langer Isolation auf dem Lande. Und aus all dem entspringt die produktivste Phase des Schriftstellers. Rosemarie Tietze hat ein Büchlein zusammengestellt, das uns Heutigen diese Periode anschaulich macht.



Alexander Puschkin befand sich im Jahr 1830 in einer besonders bewegten Phase seines sowieso nicht gerade langweiligen Lebens. Im Jahr zuvor hatte der Dichter, der nun schon Berühmtheit erlangt hatte, seiner Auserwählten einen Heiratsantrag gemacht. Natalja Nikolajewna Gontscharowa soll eine gefeierte Moskauer Schönheit gewesen sein. Sie war zwar erst 16 Jahre alt. Aber das galt damals nicht unbedingt als unschicklich. Viel schwieriger war für Puschkin von Anfang an das Verhältnis zu seiner (künftigen) Schwiegermutter. Sie hielt den Salonlöwen und Dandy für nicht ganz ehrenwert und ihre Tochter für zu jung. Aber letztlich lockte die Aussicht auf eine bessere finanzielle Stellung für die gesamte Familie. Denn die Puschkins besaßen Land und gehörten immerhin zum Adel.


Das Jahr 1830, in dem Puschkin seiner Verehrten näherkommen wollte, hielt aber für den Werbenden, aufstrebenden Dichter, eine große Schwierigkeit parat. In Russland wütete die Cholera. Rosemarie Tietze gibt dem Leser in dem von ihr zusammengestellten Büchlein der Friedenauer Presse ein Bild von der Summe der immer wieder aufs Neue entstehenden Probleme und Unwägbarkeiten, denen sich der tatendurstige Puschkin ausgesetzt sah.


Meine teure, meine liebe Natalja Nikolajewna – ich liege vor Ihnen auf den Knien, um Ihnen zu danken und Sie um Verzeihung zu bitten für die Unruhe, in die ich Sie versetz habe.
Ihr Brief ist reizend und hat mich vollkommen beruhigt. Mein Aufenthalt hier könnte sich eines ganz unvorhergesehenen Umstands wegen hinziehen: Ich dachte, das Land, das mein Vater mir gegeben hat, sei ein separates Gut, aber es ist Teil eines Dorfes mit 500 Seelen, da muss noch eine Teilung vollzogen werden […].

Brief vom 9. September 1830


Im Spätsommer 1830 reist Puschkin nach Boldino, zu dem Land, das sein Vater ihm übereignet hatte. Die beschwerliche Kutschfahrt dauert drei Tage. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Dichter noch nicht ahnen, dass sich die Cholera der Gegend nähert – und dort letztlich für geschlagene drei Monate festhalten sollte. Es sollte die schriftstellerisch produktivste Zeit Puschkins überhaupt werden.


Rosemarie Tietze verknüpft Briefe Puschkins an seine Verlobte und Freunde in chronologischer Folge mit kurzen erläuternden, biographischen Texten. Sie tragen zum Verständnis der Korrespondenz wesentlich bei. Abgerundet wird das in Wollfs Broschur gestaltete wohlfeile Bändchen durch Puschkins fröhlich-anarchistischen Einakter Das Festmahl zur Zeit der Pest.

© Matthias Pierre Lubinsky 2022