Henry van de Velde – 150. Geburtstag

Henry van de Velde (1863-1957). Portrait von Nicola Perscheid, 1904

 

 

Zum 150. Geburtstag des flämischen Designers und Architekten Henry van de Velde stellen wir das Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2013 vor, das die große Ausstellung Leidenschaft, Funktion und Schönheit wissenschaftlich begleitet.

Prophet des Neuen Stil. Der Architekt und Designer Henry van de Velde. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2013. Hrsg. von Hellmut Seemann und Thorsten Volk, 384 Seiten mit über 100 Abbildungen, Wallstein Verlag 2013, 25 Euro.

 

Der belgische Architekt und Designer Henry van de Velde (1863-1957) teilt das Schicksal vieler genialischer Geister: Obwohl er die Gestaltung revolutionierte und Generationen nach ihm anregte, kennt man ihn heute kaum noch. Das Van de Velde Jahr 2013 in Thüringen und Sachsen möchte dies ändern. Es wird begleitet von einem wissenschaftlichen Sammelband, zugleich Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar: Prophet des Neuen Stil – Der Architekt und Designer Henry van de Velde.

Nach langwierigen diplomatischen Vorbereitungen wurde Harry Graf Kessler 1902 zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des Kuratoriums des Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar berufen. Der gebildete und extrem gut vernetzte Adlige plante Riesiges: Er wollte in der Stadt Goethes und Nietzsches die europäische Moderne verankern – und damit das kulturell verschlafene Land erwecken und auf eine andere ästhetische Ebene heben.

Da kam Kessler der Belgier gerade recht. Er machte den mutigen und konsequenten Designer und Allroundkünstler mit Elisabeth Förster bekannt, der herrschsüchtigen Schwester von Friedrich Nietzsche. Kessler und sie hatten ein gemeinsames Ziel: aus Weimar eine Nietzsche-Stadt zu machen. Doch sollte sich bald zeigen, dass ihre Vorstellungen zu verschieden waren. Immerhin konnte van de Velde das Nietzsche-Archiv entwerfen. Außerdem setzte er in Deutschland bleibende Zeichen mit der Villa Esche in Chemnitz oder der Kunstgewerbeschule in Weimar. Der Erste Weltkrieg führte schnell zum jähen Ende. Nachdem Kessler schon vorher entnervt aufgegeben hatte, um sich größeren Aufgaben zu widmen, verließ der Belgier 1915 isoliert Weimar.

So scheint es mehr als angebracht, dass die Klassik Stiftung Weimar dem Design-Revolutionär ihr diesjähriges Jahrbuch widmet. In 16 wissenschaftlichen Aufsätzen spiegelt es den Forschungsstand und vermittelt Facetten der Motive und Wirkungen eines Mannes, dessen Anspruch nichts Geringeres war, als ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Was heute eher belanglos klingen mag, bedeutete um 1900 immens viel. Immerhin wollte van de Velde eine ästhetische Einheit schaffen, die einem Ideal glich: Er beschränkte sich dabei nicht auf die äußere Architektur des Hauses, die mit seinem Inneren harmonieren sollte. Sein Perfektionismus sparte kaum ein Detail aus: Von der Kücheneinrichtung bis zum Salzstreuer. Später machte man sich darüber lustig, dass selbst seine Frau für Photos passend zur Einrichtung angezogen sein musste.

Wie ungeheuer modern er allerdings war, zeigt der Beitrag über den Japonismus van de Veldes von Gabriel P. Weisberg. Auch wenn der Japan-Hype in den 1880erJahren auf seinem Höhepunkt war, hat er nicht bei vielen Künstlern so langfristig nachgewirkt wie bei dem jungen Belgier, wie Photos von Einrichtungen in dem Buch belegen. Andere Beiträge befassen sich mit van de Veldes Verhältnis zum Bauhaus, das alles andere als unproblematisch war, mit seiner Interpretation der Philosophie Nietzsches und mit seinen Anfängen als Maler.

Henry van de Veldes Selbstverständnis als Architekt wird ebenso problematisiert wie seine Motivation zur Architektur. Doch war er noch viel mehr: Van de Velde war auch Kunstsammler und -vermittler.

Dieses Jahrbuch ist eine unerschöpfliche Fundgrube für alle, die vor oder nach dem Besuch einer Ausstellung van de Veldes mehr wissen wollen, wozu auch die zahlreichen Literaturhinweise hilfreich sind.

 

 

 




Ernst Jünger – Letzte Worte – Vorveröffentlichung I.

Eine der Karteikarten aus der Sammlung Ernst Jüngers von letzten Worten Sterbender
© Klett-Cotta 2013

 

 

Heute beginnt der DANDY-CLUB mit einem Vorabdruck aus dem Buch Letzte Worte von Ernst Jünger, das am 23. April 2013 bei Klett-Cotta erscheinen wird. In loser Folge werden wir Auszüge publizieren der Sammlung von Letzten Worten Sterbender, die der Schriftsteller über Jahrzehnte sammelte. Den geplanten Text über die zusammengetragenen Sätze hat der Schriftsteller zwar am 8. Februar 1961 begonnen, jedoch nie fertig gestellt.

Wir beginnen unseren Vorabdruck mit dem zweiten Teil dieses Fragments, das in dem in drei Wochen erscheinenden Buch die Einleitung bilden wird.

 

 

Das Letzte Wort hat anekdotischen Charakter; es ist weniger eine Überlieferung als eine Kennzeichnung. Mit einiger Einschränkung dürfen wir sagen, daß es verliehen wird. Andererseits wird es nicht frei erfunden sein. Es wird in einer notwendigen Beziehung zu seinem Mann stehen und damit auf eine Schicht weisen, in der die Dinge sowohl ominös wie numinos werden. Dort hören die Umstehenden, gleich den Evangelisten, Verschiedenes.

Immerhin gehört guter Glaube zur Wiedergabe von Letzten Worten; die offensichtlich erfundenen scheiden aus. Zu ihnen zählen solche, in denen der Vorteil der Hinterbliebenen allzu spürbar wird. (Nach dem Tode des neugriechischen Dichters <unleserlich> erhoffte ein anderer poet, Sikilianos, dem berühmten Verstorbenen in Rang und Ehren nachfolgen zu können.) Ebenso würden Worte das Konzept durchbrechen, wie sie der Dichter seinen Helden in den Mund legt, obwohl sie oft von großer Schönheit sind. Zu ihnen gehört jens »Ich denke einen langen Schlaf zu tun;/Denn dieser letzten Tage Qual war groß.« von Schillers Wallenstein. Das Dichterwort hat sich mit der historischen Person verwoben, doch bleibt auch im Drama offen, ob es wirklich das letzte ist. Der Mord wird ausgespart. »Dumpfe Stimmen – Wafengetöse – dann plötzlich tiefe Stille.«

Endlich sollte man sich das Letzte Wort auch als gesprochenes vorstellen und nicht als geschriebenes. Von den Abschiedsbriefen gilt in erhöhtem Maße, was vom Abschiedswort zur festgesetzten Stunde gesagt wurde. Je stärker und ungebrochener das Bewußtsein, desto fragwürdiger, dürftiger wird, was der Gedanke und was die Sprache der Majestät des Todes entgegenzusetzen hat. Freilich ist das geschriebene Wort das eigentlich authentische. Daß es schwächer wirkt als das in Todesnot frei in die Luft gesprochene, erklärt sich daraus, daß die Absicht vorwiegt; und mit ihr, durch sie, die Personalität. Da wir uns indessen den letzten Staduien der menschlichen Bahn nähern, in denen die Personalität erlischt, wird das Unbeabsichtigte glaubwürdiger. Aus ihm wird Gemeinsames vernehmbar; Gemeinsamkeit des Leidens und der Liebe, des Schicksals und seinr Macht. Was das Licht des irdischen Tages trennt und vereinzelt, uns verbindet sie heilige Nacht. »Die Lieb ist frei gegeben,/Und keine Trennung mehr.«

 

Ernst Jünger hielt Ideen zu möglichen Einteilungen der letzten Worte auf den Karteikarten fest
© Klett-Cotta 2013

 

Es liegt in der Eigenart des Themas, daß es den auf historische Genauigkeit gerichteten Geist nicht befriedigen kann. So kommt es zu Urteilen wie jenem, das W. L. Hertslet in der Einleitung zu seinem Buche »Der Treppenwitz der Weltgeschichte« fällt: »Wie in früheren Zeiten bei der Geburt bedeutender Menschen Lichterscheinungen und anderer dergleichen Unfug an der Mode waren, so hat man später dem scheidenden Helden sehr häufig ein letztes bedeutendes, seinem Leben gleichsam als Motto dienendes Wort in den Mund gelegt un dfür einen theatralisch packenden Abgang gesorgt. Gegen diese Ausrufe Sterbender, es sei denn, sie seien ganz besonders trivial und nichtssagend, muß man vor allem vorsichtig sein; fast keiner kann vor der Kritik bestehen.«

Wie viele positivistische Urteile, so stimmt auch dieses nur in der Mitte, sonst aber weder vorn noch hinten; es gilt im sichtbaren ausschnitt, doch weder für den Ursprung noch für den Abschluß unserer Bahn. Wo nach dem schönen Wortvon Léon Bloydas Leben in die Substanz der Geschichte eingeht, genügt Genauigkeit nicht mehr. Sie dient als Mittel unter Mittelnauf dem historischen Wegeund wird vor seinem Ende wie ein Wanderstab beiseite gestellt.

Wo die Geschichte endet, hat der Mensch seit jeher das Wortnicht als Bezeichnung, sondern als Zeichen verwandt, nicht als geprägte Münze, für die er Renten eintauscht, sondern als Symbol, als Hinweis der Sprache auf Unaussprechliches. In diesem Sinne verliert es an Exaktheit, es wird mehr- und vieldeutig.

 

Trotz aller Kritik an der Überlieferung ist zu vermuten, daß sich unter der Wirrnis an Letzten Worten ein Fundus verbirgt. Wer sich länger mit dem Thema beschäftigt, beginnt Gesetzmäßiges wahrzunehmen. Wiederholungen, Übereinstimmungen, Stilformen. Aus ihnen wiederum lassen sich Schlüsse auf Gemeinsamkeiten der Charaltere, der Stimmung, der Lage ableiten. Es versteht sich, daß dabei Behutsamkeit geboten ist.

Die Beschäftigung mit einer großen Menge selbst scheinbar unbedeutender Aussprüche kann dennoch Gewinn bringen – etwa indem sie die Augen schärft. Das gilt für fast ale Sammlungen. Die große Zahl, die einerseits nivelliert, läßt andererseits nicht nur das Besondere, sondern auch allgemein Gültige schärfer hervortreten. Auf der grauen Fläche des Meeres erkennt das Auge <nicht> nur <den> Angler in seinem Boote wie gestochen, sondern auch die feine Rippung, in der sich die Strömung abzeichnet.

 

Die Ähnlichkeit und oft auch die Identität der Letzten Worte.

Hier bricht die Niederschrift ab.

 

 

 

Ernst Jünger – Letzte Worte bei Klett-Cotta


Ernst Jünger – Letzte Worte – Vorabdruck

Erscheint am 23. April 2013: Ernst Jünger, Letzte Worte
© Klett-Cotta 2013

 

 

Der DANDY-CLUB beginnt nach Ostern mit einem Vorabdruck aus Ernst Jünger – Letzte Worte, das am  23. April 2013 erscheinen wird.

Das Buch enthält die Texte der letzten Worte Sterbender, die der Schriftsteller jahrzehntelang sammelte. Herausgegeben wird es von Jörg Magenau, Autor der sehr lesenswerten Doppelbiographie über Ernst und Friedrich Georg Jünger Brüder unterm Sternenzelt. Neben dem DANDY-CLUB wird auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen – inhaltlich differierenden – Vorabdruck veröffentlichen.

Ernst Jünger, Letzte Worte bei Klett-Cotta

The Porsche 911 Book

Porsche 911 CARRERA RSR 3.0, 1973
Photo © 2013 René Staud. All rights reserved.
www.renestaud.com

 

 

The Porsche 911 Book.
50th Anniversary Edition.
Photographs by René Staud. teNeues Verlag 2013, 304 Seiten mit etwa 250 Farbphotos, 30 x 38 cm, 98 Euro.

 

Porsche und er Verlag teNeues machen allen Fans vom 911er (gesprochen: Neunelfer), wie der Sportwagen von ihnen liebevoll genannt wird, zum 50. Jubiläum ein wahrhaft riesiges Geschenk: The Porsche 911 Book enthält 250 Photos von sämtlichen Modellen der nun ein halbes Jahrhundert währenden Geschichte des Modells. Das Buch misst nicht weniger als 30 mal 38 Zentimeter und bringt beinahe drei Kilo auf die Waage.

Der renommierte Auto-Photograph René Staud lichtete die legendären Autos für dieses außergewöhnliche Buch neu ab: Von den ersten Prototypen, die noch 901 hießen, über die legendären Dauergewinner der Rennen in den 1970er Jahren, wie den 934 RSR, bis zu den heutigen Modellen fasziniert das Photobuch genau wie die Sportwagen-Legende, die es präsentiert.

Dabei war die Geburt dieses deutschen Ingenieurs-Geniestreichs gar nicht so einfach, wie Auto-Journalist Jürgen Lewandowski in seiner kurzen Einführung berichtet: Als Ende der 1950er Jahre der Porsche 356 trotz guter Verkaufszahlen an seine technische Grenze stieß, musste ein Nachfolger her. Doch noch an dem Tag, als der 901, der später 911 heißen sollte, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, war er noch nicht ganz fertig entwickelt, weshalb es erstmal den Porsche 356 C gab. Doch das ist heute alles Schnee von gestern. Porsche verstand es, mit den meisten Modellreihen, die Legende weiter zu pflegen. Nicht zufällig haben die klassischen 911er hohe Liebhaberpreise.

 

 

Porsche 911 SC/RS, 1985
Photo © 2013 René Staud. All rights reserved.
www.renestaud.com

 

 

Porsche 911 CARRERA 3.0, 1975
Photo © 2013 René Staud. All rights reserved.
www.renestaud.com

 

 

Porsche 911 MAKING-OF
Photo © 2013 René Staud. All rights reserved.
www.renestaud.com

 

René Staud

The Porsche 911 Book by teNeues

 

The Porsche 911 Book
© teNeues 2013

 

 

 



Lothar Wolleh – Das zweite Vatikanische Konzil im Bild

Lothar Wolleh, From the series: Second Vatican Coincil:
Rom um 1962-65
© Oliver Wolleh

 

 

Die Akademie Franz Hitze Haus in Münster (Westf.) zeigt Photos es Zweiten Vatikanischen Konzils von Lothar Wolleh. Der 1930 in Berlin geborene und 1979 in London verstorbene Photograph blickte zwischen 1962 und 1965 mit seiner Kamera hinter die Mauern des Vatikan.

Oliver Wolleh, der Sohn des Künstlers, hat der Akademie bisher teils unveröffentlichte Aufnahmen aus dem Nachlass seines Vaters zur Verfügung gestellt, die heute, zur Zeit des 50. jährige Jubiläums des Konzils, noch einmal Einblicke und Stimmungen einer Aufbruchszeit der Katholischen Kirche erlauben.

 

 

Lothar Wolleh, From the series: Second Vatican Coincil
Rom um 1962-65
© Oliver Wolleh

 

 

Lothar Wolleh – Das zweite vatikanische Konzil im Bild
Ausstellung noch bis 5. Mai 2013
Katholische Akademie Franz Hitze Haus
Kardinal-von-Galen-Ring 50, 48149 Münster
T +49 (0)251-9818495
www.franz-hitze-haus.de

 

 

Symbolismus-Ausstellung in Bielefeld

Lovis Corinth (1858-1925),  Salome II, 1900
Museum der bildenden Künste Leipzig
© bpk,  Museum der bildenden Künste Leipzig, Ursula Gerstenberger

 

 

 

Entwicklungssprünge in der Technologie haben die Menschen immer wieder überfordert. Das ist heute so: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse ändern sich schneller, als man es verarbeiten kann. Was heute noch Grundfeste ist, ist morgen überholt.

Und es war für 150 Jahren so. Da kommt die Ausstellung Schönheit und Geheimnis – Der deutsche Symbolismus gerade recht, – damit wir mal ein wenig entspannen. Denn auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse durch den rasanten Technischen Fortschritt derart  schnell, dass manche Künstler sich provoziert fühlten, wieder zurück zu schauen: Bilder von stiller Naturbeobachtung oder einer Verschmolzenheit von Mensch und Natur bis zu Mythischem wie Franz von Stucks berühmter Sünde zeugen von anderen Sehnsüchten als einer Durchdringung der Technik in alle Lebensbereiche.

Der deutsche Symbolismus – eher eine Geisteshaltung als eine geschlossenen Stilrichtung – wie die Bielefelder Ausstellungsmacher anmerken, ist noch immer weniger erforscht und allgemein bekannt als der gleichzeitig stattgefundene Impressionismus. Ein Grund mehr, sich auf die Spiritualität versus Gründerzeit in Bielefeld einzulassen.

 

Franz von Stuck (1863-1928), Die Sünde, 1899
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln
© Rheinisches Bildarchiv Köln

 

 

Franz von Lenbach, Schlangenkönigin, 1894
Photo: Ingo Bustorf

 

 

Schönheit und Geheimnis. Der deutsche Symbolismus 1870 – 1920.
Ausstellung Kunsthalle Bielefed
24.03. – 07.07.2013


Wie frei sind wir noch?

Freiheit setzt Bewusstsein voraus: Wie frei wollen wir sein?
© Photo: DANDY-CLUB 2010

 

 

Als der frisch gekürte FDP-Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Rainer Brüderle, in einer Talkshow angegangen wurde, weil seine Partei die Finanzmärkte nicht regulieren würde, beeilte der Politiker sich, zu rechtfertigen: Die FDP sei die erste Partei gewesen, die für eine strikte Regulierung des Bankensektors eingetreten sei.

Das ist symptomatisch für eine Diskussion in Deutschland. Denn die Diskussionen sind durch zwei wesentliche Faktoren gekennzeichnet. Erstens ihre Aufgeregtheit. Und zweitens sind dennoch alle einer Meinung. Mehr oder weniger. Dies erstaunt in Deutschland niemanden. Da muss schon ein Schweizer kommen und den Exportmeister zu mehr Gelassenheit auffordern. Dabei ist Philipp Tingler gebürtiger Berliner und ging – aus Neigung wie er sagt – in die Schweiz. Ins politisch-soziale Exil sozusagen. Jedenfalls lassen sich die Dinge von hier aus sicher deutlicher sehen.

Mitten in die aufgeregten Debatten schneit sein kleiner Essay mit dem provokanten Titel Wie frei sind wir noch? – Eine Streitschrift für den Liberalismus. In drei Kapiteln versucht Tingler, der die süffisanten und humorvollen Stil-Ratgeber  Stil zeigen und Leichter Reisen verfasste, eine Bestandsaufnahme und anschließend Tipps zur Abhilfe zu geben. »Die meisten der selbsternannten Kreuzritter gegen einen vermeintlichen Neoliberalismus wissen gar nicht, was Liberalismus überhaupt bedeutet«, schreibt der Wahl-Schweizer und gibt den Deutschjen ein wenig Nachhilfe: »Der Liberalismus ist die politische Philosophie des freien Individuums, eine Philosophie der rechtlichen Freiheit und der politischen Institutionen der Freiheitsverwirklichung.« Schlechte Karten, denkt der geneigte Leser. Gibt es doch genügend (vorgeschobene oder veröffentlichte) Gründe für Freiheitsbeschränkungen. Die Verkehrs-Geschwindigkeit müsse begrenzt werden, wegen der vielen Verunglückten. Das Internet muss zensiert werden wegen der Kinder-Pornographie &C. &C. Politiker, die sich für Freiheitsbeschränkungen einsetzen, ernten in den deutschen Talkshows den meisten Applaus. Gewählt werden sie auch.

Philipp Tingler weist in seinem kleinen Büchlein nach, dass Freiheitsdenken in Deutschland ebene keine Tradition hat. Anders in den angelsächsischen Ländern. Sie haben eine tiefere demokratische Tradition. Und sie haben noch eine andere Eigenschaft, die sie gerade von Deutschland deutlich unterscheidet: Humor. Der Autor konstatiert, dass politische Debatten in Deutschland häufig von Tabus und Denkverboten gekennzeichnet seien. Doch einen noch größeren Mangel sieht er in der grundsätzlichen Humorlosigkeit der Auseinandersetzung. Humor werde in Deutschland »vor allem materiell, also inhaltlich verstanden, er gilt als Beruf, als ein Fach; nicht als Haltung, nicht als Form des Auftritts und Ausdrucks, wie in der angelsächsischen Sphäre«.

Treffend zieht Tingler den Schluss, politische Debatten würden wesentlich entspannter laufen, wenn alle Beteiligten ein gewisses Maß an Humor hätten. Und dazu gehört eben auch Selbstironie, die voraussetzt, sich selbst infrage stellen zu können und einen Abstand zu sich selbst zu haben. Damit können eigene Positionen immer wieder selbstkritisch reflektiert werden.

Eine Lanze bricht Tingler für die Sokratsche Ironie: Schließlich gehe es letztlich um nichts anderes als eine Vermittlung zwischen den Sphären des Lebens und des Geistes. Dafür wäre die »konservative Tugend der Gelassenheit« sehr hilfreich: »Gelassenheit ist kein Loslassen, kein passives Erdulden, sondern eine Form der Tüchtigkeit und Lebenstüchtigkeit, die Bejahung der Schicksalsvorgaben und des individuellen Freiheitsanspruchs.«

 

Philipp Tingler, Wie frei sind wir noch? Eine Streitschrift für den Liberalismus. Kein & Aber Verlag 2013, 79 Seiten, broschur, 7,90 Euro.





Henry van de Velde – Ausstellung in Weimar

Henry van de Velde um 1908
Photo: Louis Held. © Klassik Stiftung Weimar

 

 

Die Henry van de Velde-Ausstellung »Leidenschaft, Funktion und Schönheit« wird vom 24. März bis zum 23. Juni 2013 präsentiert von der Klassik Stiftung Weimar.

Der flämische Architekt und Designer Henry van de Velde (1863–1957) wird in einer umfassenden Werkschau vorgestellt mit mehr als 700 Exponaten von Leihgebern aus ganz Europa und auf einer Fläche von rund 1.400 Quadratmetern. Die allein aufgrund ihres Umfangs außergewöhnliche Schau ist der Höhepunkt des Van-de-Velde-Jahres.

Auf Vermittlung Harry Graf Kesslers wurde der vielseitige Künstler 1902 als künstlerischer Berater von Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach nach Weimar berufen, wo er die Kunstgewerbeschule gründete und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs viele der wichtigsten Werke seines umfassenden Œuvres schuf. Die Innengestaltung des Nietzsche-Archivs und sein Wohnhaus ›Hohe Pappeln‹ gelten als wichtige Werke.

In souveräner Überwindung aller Traditionen hob van de Velde die Grenzen zwischen Kunst und Kunsthandwerk auf. Mit seinem Anspruch einer vernunftgemäßen Formgebung des von ihm propagierten ›Neuen Stil‹ setzte er einen Kontrapunkt zum als überkommen empfundenen Historismus. Dabei blieb er seiner Überzeugung treu, die Gestaltung eines Gegenstands sei desto vollkommener, je exakter sie dessen Zweck entspreche. Während des Ersten Weltkriegs als »feindlicher Ausländer« diffamiert, empfahl van de Velde 1915 Walter Gropius als seinen Nachfolger in der Direktion der Kunstgewerbeschule und stellte somit die Weichen für die Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar 1919.

Im Fokus der Schau steht van de Veldes Idee des Gesamtkunstwerks, in dem jedes künstlerische Detail mit seinem Umfeld harmoniert. Van de Velde gestaltete alle Lebensbereiche: den Bau des Hauses, die Gestaltung des Innenraums, Kleidung und Schmuck, die Form von Alltagsgegenständen, vom Leuchtkörper über das Möbelstück bis zum Spazierstock. Ein besonderer Reiz der Ausstellung liegt in der vollständigen Rekonstruktion von Interieurs.

 

Henry van de Velde – Leidenschaft, Funktion und Schönheit
Ausstellung 24. März – 23. Juni 2013


 

David Bowie is

David Bowie is Artist. The Victoria & Albert Museum London 23. März – 11. August 2013
© Victoria & Albert Museum 2013

 

 

David Bowie is.
Victoria & Albert Museum London
23. März – 11. August 2013.

 

So viele Tickets hat das ehrwürdige Victoria & Albert Museum in London noch nie vorverkauft: Für die am 23. März 2013 öffnende Ausstellung David Bowie is sind gestern Vormittag bereits 50.000 Karten weggegangen.

Kein Wunder, handelt es sich doch um die erste internationale Retrospektive, für die das Pop-Chamäleon umfangreich Zugang zu seinem privaten Archiv gewährte. So kann das V & A insgesamt 300 Stücke präsentieren – viele von ihnen zum ersten Mal: Handschriftliche Manuskripte, Kostüme, Photos, Filme, Bühnenbilder und Album-Cover, die teils von bekannten Photographen stammen.

Die Ausstellung zeigt, wie breit die Kooperation Bowies mit anderen Künstlern, Designern und Filmemachern stets war. Deutlich wird, dass sein ungeheurer Erfolg kein Zufall gewesen ist, sondern einem genialischen Gespür für Zeitgeist und Provokation zu verdanken ist. – Modernes Dandytum eben.

 

David Bowie is Artist. The Victoria & Albert Museum London 23. März – 11. August 2013
© Victoria & Albert Museum 2013

 

 

David Bowie is Artist. The Victoria & Albert Museum London 23. März – 11. August 2013
© Victoria & Albert Museum 2013

 

 

David Bowie is Artist. The Victoria & Albert Museum London 23. März – 11. August 2013
© Victoria & Albert Museum 2013

 

David Bowie is. The Victoria & Albert Museum London.


Leben und Meinungen des Andreas von Balthesser

Eines der wichtigsten klassischen Bücher zum Dandytum: Richard von Schaukals Andreas von Balthesser
© Edition Atelier 2013

 

 

 

Richard von Schaukal, Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten.
Edition Atelier, Wien, 2013, 144 Seiten, geb. mit Schutzumschlag und Leseband, 18,95 Euro.

 

 

 

»Der Mann, der etwas auf sich hält«, schreibt Richard von Schaukal alias Andreas von Balthesser, »im Geistigen wie im Physischen, wird ebenso seinen Intellekt wie seine Nägel pflegen, seine Wäsche ebensowenig wie seine Gedanken vernachlässigen, aber bei all seiner Korrektheit – denn dies ist das gültige Wort – niemals das Impromtu mißachten.«

 

 

Schaukals berühmtes Dandy-Brevier erschien zuerst 1907 – hat also inzwischen mehr als 100 Jahre auf dem Buckel. Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten gehört zu den wenigen bedeutenden Büchern über das Dandytum, die in deutscher Sprache verfasst worden sind. Ästhetisch und inhaltlich liegt es beinahe gleichauf mit der brillanten Studie von Jules Barbey d’Aurevilly Über das Dandytum und über George Brummell, von dem ein kleiner Auszug in der Neuausgabe von Schaukals Buch in der Wiener Edition Atelier abgedruckt ist.

 

 

Schaukal (1874-1942) studierte Rechtswissenschaften und quittierte nach einigen Jahren den österreichischen Staatsdienst, um sich als freier Schriftsteller in Wien zu verdingen. Er war befreundet mit Karl Kraus, Artur Schnitzler, Thomas Mann und dem Zeichner Alfred Kubin.

 

 

Wie der Herausgeber der Neuauflage, Alexander Kluy, schreibt, setzt sich die Reihe Wiener Literaturen, in der dies süffisante Büchlein nun erscheint, zum Ziel, Literatur zu präsentieren, die einen spezifischen Blick auf Wien eröffnet. Auf jeden Fall hat er sicher Recht, wenn er sagt, es erscheine »Ungewöhnliches und Zeitenüberdauerndes«. Denn Schaukal war mit seiner Häme nicht immer zimperlich. Wie es einem Dandy geziemt, legt er seinem Balthesser Sätze und Ansichten in den Mund, die mediokre Gemüter zusammenzucken lassen. So grenzt er den Dandy vom Gentleman ab. Der Gentleman sei der Ironie unfähig; der Dandy hingegen ironisiere sein Bewusstsein. Der Dandy ist vielfältig, facettenreich. Stärker als beim Gentleman fühlten sich die Philister, wie Oscar Wilde sie nannte, provoziert: »Der Ungeschliffene haßt instinktiv den Dandy. Der Joviale möchte ihn hänseln, gutmütig ‚aufziehn‘.« Jedoch: »Von dem Dandy gleitet alles ab. Er ist glatt und immer höflich. Höflichkeit ist glatter als polierter Stahl.«

 

 

Peter Härtling schrieb 1965 über das Buch: »In keiner Gestalt konzentriert sich das Wesen der Jahre zwischen 1870 und 1910 so anschaulich und extrem wie in der des Dandy […] In Deutschland hat der Dandy keinen Spielraum gefunden, eher schon in Österreich, das ihm jene Sprache gewährte, die in der Empfindsamkeit des Obenhin schwelgt und die gesellschaftlichen Floskeln wie Pistolenkugeln benützt.« Nun ist dieses kulturhistorisch und für die Theorie des Dandytums bedeutsame Buch endlich wieder lieferbar. Angereichert sind die Aperçus, Benimmregeln und dandyistischen Kodizes in dieser Ausgabe durch eine »kleine Dandy-Galerie«, Texte zur Männer-Mode und über Richard von Schaukal nebst einer Zeittafel seines Lebens.

 

 

Was fehlt, ist eine geistige Einordnung des Phänotypus. Was macht den Dandy denn nun eigentlich aus? Schaukal deutet es an, die hiesige Dandy-Galerie lässt es vermissen: Der Unterschied zum Gentleman ist der Geist der Revolte, der aus einem Bewusstsein der kulturellen Abstammung genährt ist. Oscar Wilde hätte hier nicht fehlen dürfen. Sein Essay über den Sozialismus ist theoretisches Rüstzeug des Dandys und macht den geistigen Habitus eines Ernst Jünger und die Provokationen von Karl Lagerfeld verständlicher. Das Dandytum des in der hiesigen »Dandy-Galerie« ebenfalls beschriebenen Sebastian Horsley (1962-2010) wurde vom Publikum nicht verstanden, weil es in seiner Performance verharrte. Ihm fehlte das Ziel. Ihm fehlte der Feind.

 

© Matthias Pierre Lubinsky 2013