Marcel Duchamp – 125. Geburtstag

Die Ausstellung ist vorbei, der exquisite Katalog noch lieferbar
© Succession Marcel Duchamp, VG Bild-Kunst/courtesy Schirmer/Mosel

 

 

Zum 125. Geburtstag von Marcel Duchamp bringen wir hier noch einmal zwei jüngst erschienene Ausstellungs-Kataloge, die sowohl inhaltlich wie in ihrer Gestaltung äußerst gelungen sind.

Marcel Duchamp in München 1912.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2012, Deutsch/Englisch, 336 Seiten, 113 Farbabbildungen, Euro 39,80.

 

Marcel Duchamp (1887-1968) wusste zu provozieren. Nicht zufällig wurde er zum radikalen Erneuerer der modernen Kunst, zum Anreger Andy Warhols.

Bei jeder seiner Provokationen war die Re-Aktion der Adressaten Teil des Gesamtkunstwerks, und seine eigene Antwort auf die Intoleranz und das Unvermögen der anderen musste von ihm wohlberechnet mit einkalkuliert werden. Aber das war ein Lernprozess. 1912 stellte Marcel Duchamp dem Pariser Salon Indépendants sein Gemälde Akt eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 zur Verfügung. Die Ablehnung der Jury war barsch. Und mit ihr hatte der 24-jährige Maler nicht gerechnet: Er habe mit dem Akt die Prinzipien des Kubismus verletzt. Und heute glaubt man es kaum: Ein Akt habe darüber hinaus nicht eine Treppe herabzusteigen, sondern zu liegen, begründeten die Kubisten ihre Zurückweisung des revolutionären Bildes. Duchamp reagierte prompt und holte das Bild persönlich wieder ab.

Dieses Ereignis gilt als unmittelbarer Auslöser von Duchamps anschließender Reise nach München, wo er sich zwischen dem 21. Juni und der ersten Oktoberwoche 1912 aufhielt. Er selbst beschrieb am Ende seines Lebens die Motivation für die Reise – wie stets stilisiert – so:

»Damals wäre ich irgendwo hingegangen. Wenn ich ausgerechnet nach München ging, so deshalb, weil ich in Paris einem Kuhmaler begegnet war – ich meine einen Deutschen, der Kühe malte, die besten Kühe natürlich, einem Bewunderer von Lovis Corinth und all den Leuten -, und als dieser Kuhmaler sagte: ‚Geh‘ nach München‘, stand ich auf und ging dorthin und lebte dort während Monaten in einem kleinen möblierten Zimmer. Es gab zwei Cafés, wo die Künstler hinzugehen pflegten, Kandinskys Buch war in allen Läden und man konnte Gemälde von Picasso sehen in der Galerie am Odeonsplatz. Ich sprach nie mit einer Menschenseele, aber ich hatte eine großartige Zeit.«

 

 

Marcel Duchamp, Akt eine Treppe herabsteigend Nr. 2
1912, Öl auf Leinwand
© Succession Marcel Duchamp, VG Bild-Kunst/ courtesy Schirmer/Mosel

 

 

Diese knapp drei Monate beeinflussten Duchamp nachhaltig. Verschiedene heute berühmte Werke wurden von ihm in dieser Zeit an der Isar entwickelt oder vorbereitet, so das Große Glas. Aber was beeinflusste Duchamp tatsächlich? Und: Verkehrte er wirklich mit niemandem, wie er kokettiert? Eine aufwendig vorbereitete Ausstellung in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, begleitet von einem fulminant-gelungenen Katalog aus dem Schirmer/Mosel-Verlag widmet sich zum hundertjährigen Jubiläum von Duchamps München-Aufenthalt diesen Fragen.

Der Begleitband der Mitte Juli zuende gegangenen Ausstellung stellt Bezüge her zu Personen, Vorläufern und Themenfeldern, die auf den jungen Künstler einwirkten, – die ihn anzogen. Im Jahre 1912 war München ein bedeutendes Zentrum für Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Bekannt ist, dass Duchamp immer wieder in die Alte Pinakothek ging. Unzählige Galerien, Museen und Kunstsammlungen mögen auf den neugierigen Franzosen gewirkt haben. Die Sezession zeigte ihre Internationale Kunstausstellung, wo Franz von Stucks Bildnis von Adam und Eva große Aufmerksamkeit auf sich zog.

 

Die Visitenkarte Marcel Duchamps, 1910 (Vorder- und Rückseite)
© Succession Marcel Duchamp, VG Bild-Kunst/ courtesy Schirmer/Mosel

 


 

Die Beiträge vermitteln nun ein weitergehendes Bild davon, dass auch das Deutsche Museum und die Bayerische Gewerbeschau die Sicht des jungen Künstlers nachhaltig prägten. Neueste wissenschaftliche Forschungsergebnisse standen in Duchamps Fokus. So beschäftigt er sich in seinen Bildern aus der Münchner Zeit mit weiblicher Sexualpsychologie, der Institution der Ehe und der Psychologie des Junggesellendaseins.

Neben der gelungenen graphischen Gestaltung sind die Text-Beiträge hervorzuheben, die die bisherige Forschung nicht nur rezitieren, sondern fortschreiben. Das Buch ist komplett zweisprachin in Deutsch und Englisch. Aufgrund der zahlreichen Abbildungen und Querverweise liegt hier beinahe ein Marcel Duchamp-Handbuch vor.

DANDY-CLUB Empfehlung!

 

 

 

Der opulente Ausstellungs-Katalog aus dem Moser Verlag


Marcel Duchamp – Le mystère de Munich
22.06.2012 – 30.09.2012
Vor der Alten Pinakothek

Künstlerbuch zur Ausstellung:
Rudolf Herz, Marcel Duchamp – Le mystère de Munich, Moser Verlag, München 2012, 332 Seiten, Fadenheftung, Euro 59.

 

 

Marcel Duchamp (1887-1968) gilt heute nicht nur als einer der wichtigsten Avantgarde-Künstler des 20. Jahrhunderts, sondern gar als einer der bedeutendsten Erneuerer der Kunst im vergangenen Jahrhundert überhaupt.

Dazu beigetragen hat Duchamps Selbst-Stilisierung, zu der auch gehörte, über die eigene Biographie keine Angaben zu machen und die Biographen auf falsche Fährten zu schicken. Duchamp war davon überzeugt, weder Metaphysik noch Religion oder Philosophie könnten eindeutige Antworten geben. So könne auch die Kunst keine eindeutigen Aussagen treffen, weil erst der Betrachter das Kunstwerk durch seine Interpretation »mache«, also vollende.

Duchamps München-Aufenthalt vor genau 100 Jahren wird in der Kunstwissenschaft eine große Bedeutung beigemessen, hat doch der später berühmt Gewordene danach dem Kubismus abgeschworen und seine Haltung zur Kunst geändert. Er hatte fortan einen generelleren Ansatz und war der Meinung, es genüge nicht, wenn die Kunst in der klassischen Tradition etwas abbilde. Aus seinem mehrmonatigen Aufenthalt in München von Ende Juni bis Anfang Oktober 1912 machte Duchamp stets ein Geheimnis, bis er 1964 bei einem Vortrag vom »Schauplatz meiner endgültigen Befreiung« sprach.

 

 

Barer Straße um 1910, rechts im Vordergrund Haus Nr. 65, Wohnung Marcel Duchamps in München 1912
© Stadtarchiv München

 

 

 

Nun widmet sich neben der Ausstellung Marcel Duchamp in München im Lenbachhaus (noch bis 15. Juli 2012) eine zweite Veranstaltungsreihe diesem Aufenthalt, der die moderne Kunst nachhaltig beeinflussen sollte. In aufwendiger Recherche und Rekonstruktion hat Rudolf Herz, der sich seit Jahren mit Kunst im öffentlichen Raum beschäftigt, versucht Näheres zu Duchamps Münchner Zeit zu rekonstruieren. Als eines der Ergebnisse präsentiert er eine Nachgestaltung der Wohnung, in der Duchamp in München lebte im Maßstab 1:1. Das temporäre Denkmal ist um 90 Grad gekippt, sodass der Grundriss von der Seite einsehbar wird. Es ist ganze 17 Meter lang und 7 Meter hoch und steht auf der Südwiese der Alten Pinakothek. Nicht weit entfernt von hier, 25 Hausnummern weiter, in der Barer Straße 65, befand sich die ungünstig geschnittene Wohnung in einem Haus, das im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört wurde. Sie war gemietet von einem jungen Ehepaar, einem Ingenieur und einer Schneiderin. Heute wird angenommen, dass die Beiden ihren zeitweiligen Untermieter nachhaltig beeinflussten, beschäftigte sich dieser doch fortan verstärkt mit Mechanik und Technik und ihren Bezügen zur menschlichen Wahrnehmung.

Die originalgetreue Skulptur soll Duchamp in das kulturelle Gedächtnis der Stadt München integrieren. »Marcel Duchamp. Le Mystère des Munich« steht noch bis zum 30. September 2012 und wird begleitet durch ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm.

Ein Highlight des ambitionierten Projektes ist das begleitende Künstlerbuch, dessen Titulierung als Katalog eine gelinde Untertreibung wäre: Auf über 300 Seiten präsentieren Rudolf Herz und der Moser Verlag nicht nur die Skulptur, sondern darüber hinaus Dutzende von Zeitzeugnissen, wie Werke von Duchamps Freunden aus der Zeit, Ansichten von München, dem Wohnhaus in der Barer Straße, süffisanten Photos aus dem Atelier des Freundes Max Bergmann und vieles andere. Rudolf Herz beschreibt detailliert den Forschungsstand zu Duchamps Werdegang und wie ihm viele sympathisierende Biographen auf den Leim gingen. Ein E-Mail-Gespräch mit Andreas Wutz bringt Hintergrund und Motivation von Spurensuche und Wohnungs-Skulptur näher.

Das bibliophile Buch weiß allein aufgrund seiner Materialfülle und Gestaltung zu gefallen und ergänzt die Sekundär-Literatur zu Duchamp prononciert, – ohne sich auf Fachkreise zu beschränken. Der Handbuch-ähnliche Bildband ist für alle, die sich für die Entwicklung der modernen Kunst interessieren, ein Ereignis.

Marcel Duchamp – Le mystère de Munich. Pinakothek der Moderne München