Gretha und Ernst Jünger – Einer der Spiegel des anderen. Briefwechsel 1922 – 1960

Der Briefwechsel erscheint bei Klett-Cotta
© Klett-Cotta 2021






Gretha und Ernst Jünger –
Einer der Spiegel des anderen. Briefwechsel 1922 – 1960.
Hrsg. von Detlev Schöttker und Anja Keith.
Klett-Cotta 2021, 720 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Mit Abbildungen. 42 Euro.






Dieser Briefwechsel ist eine DER literarischen Sensationen des Bücherherbstes 2021: Der Schriftsteller Ernst Jünger wechselte mit seiner ersten Frau Gretha fast vier Jahrzehnte Briefe und Karten. Der persönlich zurückgezogen lebende Solitär der deutschen Literatur zeigte sich nie zuvor so verletzlich.




Ende Februar 1943 ist die Ehekrise zwischen Gretha (geb. von Jeinsen, 1906-1960) und Ernst Jünger (1895-1998) auf dem Höhepunkt. Ernst Jünger, der zu dieser Zeit in Paris stationiert ist, antwortet seiner Frau auf ihren Brief einige Tage zuvor, der leider nicht mehr erhalten ist:

            „Liebe Gretha,

Soeben trifft Dein furchtbarer Brief vom 20. Februar hier ein, der mich vollkommen und wie noch kein Brief in meinem Leben zu Boden geschlagen hat. Ich kann ihn nicht beantworten, denn ich bin meiner Schuld bewußt, und Du bist der einzige Mensch, dem ich jemals ein solches Eingeständnis gemacht habe. Du kennst ja nun auch meine Dinge, wie ein Beichtvater sie kennen würde, denn Du hast sie gelesen, wie ich sie mir selbst erzählt habe. Du kennst mich jetzt also, wie selten Eheleute es tun. (…)




Bereits am 7. Dezember 1942 wollte sich Gretha von ihrem Mann trennen. Sie hatte ihm geschrieben: „ (…) Da 17 Jahre keine Aenderung brachten, so werden es auch die folgenden nicht mehr bringen; ich bin jedoch diesen unerhörten seelischen Belastungen nicht mehr gewachsen, und sehe die einzige Möglichkeit in der geistigen Art des Zusammenlebens, und der tiefen, menschlichen Bindung zueinander, die immer bestanden hat und bestehen wird. Denke darüber nach, und erfülle mir diesen Wunsch; es wird Dich wenig kosten, denke ich, besonders wenn Du bedenkst, dass mir die frühere Lösung unmöglich geworden ist. Hier bin ich zu sehr Frau, und kann Dir nicht verzeihen. (…)



Der Grund der Krise waren die Tagebuch-Aufzeichnungen Ernst Jüngers, die er zur Sicherung zu seiner Frau nach Hause schickte und in denen er recht unverhohlen von den Beziehungen mit anderen Frauen in Paris berichtete.



Noch nie hat der Leser einen so intimen Einblick in die persönlichen Befindlichkeiten und Charakterzüge dieses Schriftstellers erhalten, der praktisch das gesamte 20. Jahrhundert literarisch-philosophisch begleitete. Dieser umfangreiche Briefwechsel, der nun bei Klett-Cotta erscheint, zeigt einen verpanzert lebenden, geistigen Dandy, der von starken narzistischen Zügen durchdrungen ist. Anders wäre wohl sein umfangreiches Werk, das über 100 Bücher und unzählige Aufsätze umfasst, nicht möglich gewesen.



Der Briefwechsel Gretha und Ernst Jünger – Einer der Spiegel des anderen umfasst den Zeitraum vom Kennenlernen 1922 bis zum Tod Grethas im Jahr 1960. Er besteht aus etwa 2.000 Korrespondenzen. Wie keine andere Quelle legt er Zeugnis ab von Ernst Jüngers Privatleben, das er aus seinen veröffentlichten Tagebüchern weitestgehend verbannte. Die Konflikte in der Partnerschaft mit Gretha sind sicher beflügelt worden durch die unterschiedlichen Lebenssituationen: Während Gretha in Kirchhorst bei Hannover das Haus hütete und während der 1943 beginnenden Bombenangriffe einer Vielzahl von Bekannten eine Heimstatt und Ernährung und Schutz bot, verkehrte Ernst Jünger im von den Deutschen besetzten Paris mit Offizieren, die wie er gegen das Nazi-Regime waren. Er suchte die Nähe zu französischen Schriftstellern und Künstler. Ein Bild davon erhält der Leser in den berühmten Tagebüchern, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel Strahlungen veröffentlicht wurden.



Gretha Jünger stand einerseits über beinahe vier Jahrzehnte loyal an der Seite ihres Mannes. Sie hielt ihm den Rücken in vielen privaten Angelegenheiten frei und führte das Haus. Andererseits war sie ihm wichtige Gesprächspartnerin, ohne die Jüngers Werk sicher ein anderes wäre.


Das opulente Buch enthält neben dem Briefwechsel auf über 700 Seiten ein einführendes Vorwort, ein Nachwort, in dem die Herausgeber die verschiedenen Phasen der Beziehung erläutern und so zum Verständnis beitragen. Namens- und Literaturverzeichnis runden den schweren Band ab.

© Matthias Pierre Lubinsky 2021