Benn in Berlin

Gottfried Benn (1886-1956)




Am Abend des 29. Januar 1932 bekommt Gottfried Benn einen Anruf. Oskar Loerke teilt ihm mit, dass er in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen wurde. Das war zugleich Fluch und Segen für den Dichter, der heute als der bedeutendste deutsche Lyriker des 20. Jahrhunderts angesehen wird. Der Literaturwissenschaftler Joachim Dyck berichtet in seinem Buch »Benn in Berlin«, der Geehrte habe verdutzt geantwortet: »Aber machen Sie doch keine Witze mit mir altem Mann.« Benn war da 45 Jahre alt und wohl auf dem Höhepunkt seines Ruhmes.

Joachim Dyck, Benn in Berlin. Transit Verlag, Berlin 2010, 154 Seiten, zahlreiche Abbildungen, gebunden, 16,80 Euro.

Gibt es nicht schon genügend Benn-Biographien? Tatsächlich existiert eine kleine Bibliothek an Biographien über diesen so schwer zu fassenden Mann, der gleichzeitig Frauenschwarm und doch unnahbar war. Zu Benns 50. Todesjahr 2006 erschien ein halbes Dutzend umfangreicher Darstellungen. Unter ihnen auch »Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949« vom Autoren des hier annoncierten Büchleins. Die Konzentration auf Benn in Berlin gibt einen anderen Blickwinkel und erlaubt eine Erzählweise, die nicht auf Vollständigkeit achten muss.

Angenehm ist, dies vorweg, dass Dyck keinerlei Schaum vor dem Mund hat. Und: Im Gegensatz zu anderen Biographen steht das Politische hier nicht im Mittelpunkt. Das lässt das Buch zum einen angenehm lesen. Der Leser ist nicht permanent Wertungen des Autoren ausgesetzt, wie es in den letzten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik üblich war. Zum anderen ist das auch die einzig sinnvolle Perspektive, war Benn eben nicht primär ‚politisch‘. Er war ein Schriftsteller, der vom weltlichen Versagen des künstlerischen Genies wusste. Vielleicht tragisch vergleichbar mit dem Philosophen Martin Heidegger, schmälert es eben nicht den Wert der Gedichte Benns, dass dieser Anfang der 1930er Jahre den »nationalen Sozialismus« begrüßt hatte. Benn mag hereingefallen sein auf die anfängliche ‚Ästhetisierung‘ der Politik, an der der Nationalsozialismus sich versuchte. Sein Ansatz dagegen war die Formung einer ästhetischen Sprache aus dem Leben.


Andé Gide während seines Besuches bei Benn 1931




Joachim Dyck vermittelt ein greifbares Bild von dieser Ausnahmepersönlichkeit, die sich Zeit ihres Lebens von Berlin angezogen fühlte. In den letzten Lebensjahren wurde daraus allerdings eine Hassliebe. Dyck gibt Bilder. Bilder von Benn als Arzt. Benn als Frauenmann. Benn als Kneipenstammgast. Der Leser spürt die Atmosphäre im Wartezimmer beim Ärtzteehepaar Benn. Er praktizierte als Hautarzt, seine Frau war Zahnärztin. Beide teilten sich eine kleine Praxis am heutigen Berliner Mehringdamm. Dyck, Vorsitzender der Gottfried-Benn-Gesellschaft, schildert den herausragenden Dichter als einsamen, suchenden Mann. Anschaulich ist zu erfahren, wie Benn lange Jahre in ärmlichen Verhältnissen lebte. Er beklagte sich nicht, sondern schien seine Situation eher zu ertragen.

Angereichert ist das Buch mit Schwarz-Weiß-Photographien von Orten in Berlin, an denen Gottfried Benn viel Zeit verbrachte. So entstand ein geschmackvolles Berliniana. Ein Stück Stadtgeschichte, das auch zeugt von dem ungeklärten Verhältnis Berlins zu seinem Dichter. Zu ‚seinem‘ Dichter?

Matthias Pierre Lubinsky 2011
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