Ein herausragender Tatsachen-Thriller: Emmanuel Carrères Widersacher
© Cover Matthes & Seitz Berlin 2018
Emmanuel Carrère: Der Widersacher.
Übersetzt von Claudia Hamm.
195 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag.
Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2018, 22 €.
Ein – scheinbar – ganz normaler französischer Familienvater, Ehemann und Arzt tötet im Jahr 1993 seine beiden kleinen Kinder, seine Frau. Anschließend fährt er noch zu seinen Eltern, um auch sie kaltblütig umzubringen. Nach dem fünffachen Mord kommt schnell heraus, dass der Täter in Wahrheit gar kein Arzt war und auch das meiste andere in seinem Leben gelogen war. Diese ungeheure Geschichte zog den französischen Autor Emmanuel Carrère in ihren Bann.
Emmanuel Carrère wurde 1957 in Paris geboren. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Produzent. Seine über ein Dutzend Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Berühmt machte ihn sein vollkommen eigener Stil eines subjektiven Realismus, in dem er versucht, den anderen möglichst wertungsfrei zu portraitieren und Geschehnisse abzubilden. Dabei bezieht er sich als Beobachtender und Beschreibender bewusst in die Schilderung mit ein. Carrère geht von seiner eigenen Involviertheit aus. Und davon, dass es keine objektive Beschreibung gibt.
Jean-Claude Romand lebte im französischen Jura, unweit der schweizer Grenze. Er lebte 17 Jahre als promovierter Arzt, der bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in leitender Position tätig war. Glücklich mit zwei Kindern und einer attraktiven Frau. Im Jahr 1993 erschütterte eine grausame und unvorhergesehene Tat ganz Frankreich: Romand hatte seine Familie und anschließend seine alten Eltern und deren Hund kaltblütig umgebracht. Kurz nach diesem fünffachen Mord kam heraus, dass Romand niemals bei der WHO gearbeitet hatte. Er hatte noch nicht einmal sein Medizinstudium abgeschlossen. Praktisch alles an seinem Leben war eine Lüge. Und die war 17 ganze Jahre lang weder seiner Frau noch den engsten Freunden aufgefallen.
Eine Geschichte genau nach dem Geschmack von Emmanuel Carrère. Der französische Ausnahmeautor war so angezogen von dieser Geschichte, dass er ein Buch daraus machen wollte. Vielmehr als Sensationslust interessierte ihn das Leben hinter der Maske. Wer ist dieser Jean-Claude Romand, wie konnte es zu dieser ungeheuerlichen Tat kommen? Was war die Vorgeschichte? Carrère schrieb dem Mörder einen Brief ins Gefängnis, um herauszufinden, was in diesem vorgegangen ist. Als er keine Antwort erhält, schreibt er einen fiktiven Roman über einen Mörder, der seine Familie umbringt, obwohl er ein liebevoller Vater gewesen war. Das Buch unter dem deutschen Titel Schneetreiben wird Romand in die Untersuchungshaft gebracht. Zwei Jahre nach Carrères Brief antwortet er, er sei nun zur Zusammenarbeit bereit.
Es geschieht das, was geschehen sollte. Der Autor besucht den Familienmörder – und wird hineingezogen in die Geschichte. Dazu gehört natürlich auch die Vorgeschichte des Mannes, der so vollständig scheitert, dass er als letzten Ausweg die Auslöschung seiner Familie sieht. Romand gab an, nach der Tötung seiner Frau hätte er sich selbst umbringen wollen. Tatsächlich zündet er das Haus an. Er macht das aber so dilettantisch, dass er gerettet werden kann.
Ein ungeheures Buch. Emmanuel Carrère hat auch schon davor und dann danach gelungene Bücher geschrieben, die einen eigenen literarischen Stil begründeten. Dieser Stoff faszinierte ihn, weil er zeigt, wie sehr wir alle von unserer sozialen Maske beherrscht werden und zu welchem Verhalten diese Maske führen kann. Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen schizophren werden. Emmanuel Carrère erzählt eine wahrhafte Geschichte darüber. Das Buch erschien ursprünglich 1999 in Frankreich und nun in einer Neuübersetzung von Claudia Hamm.
© Matthias Pierre Lubinsky 2018