Ein Lesevergnügen: Die große Biographie von Tiphaine Samoyault
© Suhrkamp Verlag 2015
Der französische Intellektuelle Roland Barthes wäre am 12. November 2015 einhundert Jahre alt geworden. Er, der ein Leben lang auf subtile Weise in allem, was uns umgibt, die Zeichen suchte, starb denselben absurden Verkehrstod wie Albert Camus. Durch eine Unachtsamkeit beim Überqueren der Straße von einem Lieferwagen erfaßt, starb er vier Wochen später 1980 im Krankenhaus mittelbar an den Folgen des Unfalls.
Es war kein Zufall, daß er Proust so verehrte. In seiner grandiosen Vorlesungsreihe am Collège de France mit dem Obertitel Die Vorbereitung des Romans beschäftigte sich Roland Barthes im Jahr seines Todes ausgiebig mit dem Schöpfer der Suche nach der verlorenen Zeit. Letztlich war es genau das, was der Semiologe selbst suchte. Was ist das Essentielle dessen, was wir erlebt haben. Was macht uns aus? Was bleibt?
Die Themen der Vorlesung kreisen um den Preis, den ein Schriftsteller zahlt, um dem Leben einen Roman abringen zu können. Krankheit, Einsamkeit, Schuldgefühle sind zentrale Begriffe, die Barthes immer wieder aufgreift. Bekannt ist, wie Marcel Proust seinen mehrere tausend Seiten starken Romanzyklus buchstäblich gegen alle Widrigkeiten des Lebens erkämpfte. Trotz stetig fortschreitender Krankheit ließ Proust nicht ab, sondern setze alle verbleibende Energie daran, das unvorstellbare Vorhaben zuende zu bringen. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte der schwer Asthma-Kranke in einem winzigen feuchten Zimmer – zuletzt nur noch im Bett. Das letzte Buch der recherche hat er dann gar diktieren müssen.
Roland Barthes, geboren sieben Jahre vor dem Tod Prousts und ein Jahr nach dem Erscheinen von Du côté de chez Swann, des ersten Teils der recherche, war zwar nicht sein Leben lang von so schwerer Krankheit belastet. Dennoch litt er unter Lungentuberkulose, wegen der er als junger Mann viele Monate in Sanatorien verbrachte und die in Schüben dann sein weiteres Leben lang immer wiederkehrte. Ähnlich Proust, war die Todesnähe seinem Körper immanent. Ähnlich anderer späterer bedeutender Autoren hatte der junge Roland endlose Zeit zur Verfügung, die er zur Lektüre nutzte.
In dem berührenden Über mich selbst, das Suhrkamp nun in Auge in Auge – Kleine Schriften zur Photographie wiederveröffentlicht, schreibt Roland Barthes:
An der Vergangenheit fasziniert mich am meisten meine Kindheit; sie allein gibt mir, wenn ich sie betrachte, nicht das Bedauern über die entschwundene Zeit. Denn nicht das Irreversible entdecke ich in mir, sondern das Nichtzureduzierende; alles, was noch in mir ist und Zugang hat; im Kind lese ich offenen Körpers die schwarze Kehrseite meiner selbst, die Langeweile, die Verletzbarkeit, die Fähigkeit zu Verzweiflungen (zum Glück sind sie plural), die innere Gemütserregung, die zu ihrem Unglück von allem Ausdruck abgeschnitten ist.
In diesem etwa 350 Seiten starken Suhrkamp Taschenbuch versammeln die Herausgeber Peter Geimer und Bernd Stiegler Barthes‘ Essays, kurze Aufsätze und Vorworte, die im weitesten um das Thema der Photographie kreisen. Es ist sicher keine Übertreibung, wenn man davon ausgeht, daß dieser Band ein Standardwerk zur Photographie-Theorie werden wird, in dessen Impressum man bald von der dutzendsten Auflage lesen wird. Die Auswahl der Texte erscheint sinnvoll. Auch das Hereinnehmen der autobiographischen Photos ist zu begrüßen, hat sich doch Barthes intensiv mit seiner Herkunft auseinandergesetzt und an verschiedenen Stellen seines Werkes deutlich gemacht, wie sehr ihn seine Kindheit geprägt hat.
Für Barthes, so die Herausgeber, hält ein Photo das Gezeigte nicht für alle Zeiten lebendig. Barthes vertrete das Gegenteil: in dem es uns zeigt, wie abgeschieden und unwiederbringlich das Gezeigte ist, bestätigt es den Tod.
Neuausgabe als bibliophiles Suhrkamp Taschenbuch: Der Eiffelturm
© Suhrkamp Verlag 2015
Der Suhrkamp Verlag feiert den 100. Geburtstag seines zum modernen Klassiker avancierenden Autoren mit einem Feuerwerk von Neuerscheinungen. Dazu gehört auch eine Wiederveröffentlichung als bibliophiles Suhrkamp Taschenbuch mit Goldprägung und zeitgenössischen Photographien: Der Eiffelturm ist einer von Roland Barthes‘ bedeutendsten Essays, in welchem der Strukturalist sein Instrumentarium der Sektion von Bedeutungen, Interpretationen und Unterstellungen an den Mythen des Alltags (so einer seiner berühmtesten Buchtitel) vornimmt. Der Eiffelturm wurde in den Jahren 1887 bis 1889 aus Anlaß der nachfolgenden Weltausstellung errichtet.
Äußerst lesenswert ist, wie Roland Barthes uns in dem kleinen Büchlein unser Unbewußtes vor Augen führt. Das, was wir stets mitdenken, wenn wir den Eiffelturm wahrnehmen, aber ob seiner Selbstverständlichkeit gar nicht mehr reflektieren.
»Blick, Objekt, Symbol, der Eiffelturm ist alles, was der Mensch in ihn hineinlegt. Als betrachtetes und betrachtendes Schauspiel, nutzloses und unersetzbares Bauwerk, vertraute Welt und heroisches Symbol, Zeuge eines Jahrhunderts und immer wieder neues Monument, unnachahmbares und unablässig reproduziertes Objekt, ist er das reine Zeichen, offen für alle Zeiten, für alle Bilder und alle Bedeutungen, die ungehemmte Metapher.«
Sind diese beiden Neuerscheinungen erfreulich, weil sie im ersten Fall (Auge in Auge) bislang verstreut erschienene Texte zum erstenmal zusammenfassen und im zweiten Fall (Der Eiffelturm) einen Essay, der erstmals vor Jahrzehnten erschien, wieder zugänglich macht, so ist die dritte Neuerscheinung eines der großen Buch-Ereignisse dieses Herbstes.
Die große Biographie von Tiphaine Samoyault ist erst in diesem Jahr in Frankreich erschienen. Daß sie nur mit der Verzögerung einiger Monate in Deutsch herauskommt, ist für eine Biographie diesen Umfanges eher ungewöhnlich. Die Professorin für Komparatistik erzählt das Leben Roland Barthes‘ mit Empathie, ohne dabei den gehörigen Abstand, den die Biographin wahren sollte, zu verlieren. Dieser positive Eindruck des Inhalts und der Art der Schilderungen wird verstärkt durch eine angenehme Sprache, die sehr empfindsam mit all dem Beschriebenen umzugehen weiß. Beinahe meint man beim Lesen, den französischen Sprach-Duktus herauszuhören, was auch ein Indiz für die Qualität der Übersetzung ist.
Die Autorin hat mit vielen ehemaligen Freunden und Weggefährten von Roland Barthes gesprochen, sodaß ihr die Brüchigkeit und Fragilität dieser eher zurückgezogen lebenden Person deutlich werden konnte. Der Titel Die Biographie macht den Anspruch deutlich: Hier soll also das ultimative Standardwerk zu Roland Barthes‘ Leben vorgelegt werden. Nimmt man zu den oben erwähnten handwerklichen Qualitäten noch die Essenz des neu Erforschten hinzu, so mag man dem nicht widersprechen. Immerhin 871 Seiten hat diese biographie monumentale. – Und jede einzelne ist spannend erzählt, dabei substantiell und erhellend.
Diejenigen, die Roland Barthes einmal hören konnten, ob im Hörsaal oder im Radio, waren eingenommen von seiner angenehmen und warmen Stimme.
Tiphaine Samoyault schreibt: »Die Stimme ist bei Barthes eine biographische Konstante. Jene, die ihn kannten, sind der einhelligen Meinung, er habe eine ‚schöne Stimme‘ gehabt. Seine Stimme wurde zu seinem Markenzeichen, zu seinem Monogramm. Ein solches Zeichen hat den Vorzug, dass es zugleich Träger von Abwesenheit und Anwesenheit, von Körper und Rede ist. Es resümiert die anhaltende Resonanz einer kritischen Stimme für unsere Zeit. Denn für Barthes haben die Dinge viel mit Genauigkeit und Timbre zu tun. Er kann sich nicht damit begnügen, im Dissens mit seiner Zeit zu sein, was Dissonanzen erzeugen würde.«
Eine Stimme, die bleibt.
© Matthias Pierre Lubinsky 2015
Roland Barthes, Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 352 Seiten, Broschur, 20,- Euro.
Roland Barthes, Der Eiffelturm, mit zeitgenössischen Abbildungen, Titel in Goldprägung, Suhrkamp Taschenbuch, 80 Seiten, 9,- Euro.
Tiphaine Samoyault, Roland Barthes. Die Biographie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 871 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 39,95 Euro.