Ulrich Horstmann – Mit Todesengelszungen

Nicht nur für Suizidenten empfehlenswert: Die intelligente Anthologie von Ulrich Horstmann
© Königshausen & Neumann 2015

 

 

 

 

Ulrich Horstmann, Mit Todesengelszungen.
Freisprüche für Selbstmörder von Seneca bis Cioran nebst einem Plädoyer gegen die neue Zwangsjacke.
156 Seiten, Ppb., Königshausen & Neumann 2015, 18,- Euro (D).

 

 

 

 

»Le suicide fait partie du capital de l‘humanité«, waren die Abschiedsworte des französischen Schriftstellers Henry de Montherlant, als er sich 1972 erschoss. Er hatte dies in Anlehnung an einen Aphorismus Ernst Jüngers notiert, um sich darüber zu erschießen. Diese Aussage bekämpfen seit Jahrhunderten Kirchenvertreter, Staatsbedienstete und Mediziner mit den unterschiedlichsten Begründungen. Ulrich Horstmann tritt seit langem für einen selbstbestimmten Abgang ein. Sein neuestes Buch ist eine Anthologie mit bedeutenden Texten.

 


Bereits der griechische Philosoph Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) war ein Vertreter des Menschenrechts auf Suizid: Der Weise lebe so lange, so argumentierte der Gelehrte, »wie es die sittliche Pflicht verlangt, nicht solange er kann […] Tritt ihm zuviel entgegen, was ihn belastet, was die Seelenruhe ihm stört, dann wirft er des Lebens Fesseln ab.«

 


Montaigne (1533-1592) argumentierte, frei sei ein Mensch letztlich erst dann, wenn er den Tod verachte, das heißt, wenn er sich vor ihm nicht mehr fürchtet. Die beiden Philosophen begründen den Reigen der in der Anthologie Mit Todesengelszungen – Freisprüche für Selbstmörder von Seneca bis Cioran nebst einem Plädoyer gegen die neue Zwangsjacke versammelten Suizid-Verteidiger.

 

 

Konsequent philosophiert Montaigne, niemand bräuchte sich über sein Leben und die Unbill der Welt zu beschweren. Schließlich könne er sich jederzeit verabschieden: »Zum Sterben braucht man nichts, als es zu wollen.«

 


Die Texte in diesem intelligenten Buch sind chronologisch sortiert. Danach folgen John Donne und Robert Burton. David Hume (1711-1776) legt sich massiv mit der Kirche an, indem er ihre Argumentation, der Suizident stelle Gottes Schöpfung infrage und sei damit für sein Leben undankbar, sucht ad absurdum zu führen.

 

 

Georg Christoph Lichtenberg und Ludwig Feuerbach präsentieren zwei große Vertreter des Menschenrechts auf Freitod im 18. und 19. Jahrhundert. Neben Schopenhauer und Nietzsche fehlt der großartige Paul Valéry nicht, der sich ein literarisches Leben lang mit den Grenzbereichen des menschlichen Daseins beschäftigte.

 

 

Zwei Autoren und deren Schlüsselwerke zum selbstbestimmten Aus-dem-Leben-Scheiden haben wir vor kurzem an dieser Stelle genannt aus Anlass des Suizides von Fritz J. Raddatz: Jean Amérys grandiosen Essay Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod (1976) und Hermann Burgers Tractatus Logico-Suicidalis – Über die Selbsttötung (1988). Beides sind nicht nur literarisch grandiose Bücher. Sie lassen den Entschluss zur Selbsttötung absolut unausweichlich erscheinen. Beide Bücher wurden durch die Ausführung der Tat ihrer Autoren gekrönt.

 

 

In seiner ausführlichen Einleitung zitiert Ulrich Horstmann den Schweizer Schriftsteller Jean Améry:

 

»Der Suizidant ist ein Mensch. Schon gehört er der Erde, aber noch gehört die Erde ihm – und sie ist schön. Und der Andere, mein Gott, er war, gesehen nun aus der Perspektive des Scheidenden, so schrecklich nicht […] Du wirst mich, Anderer, der du mir die Hölle warst, aber auch die Seligkeit, nicht oder nicht lange beklagen: Aber ich beklage dich und in dir mich selber. Und damit: gute Nacht.«

 


Doch ist es Herausgeber Ulrich Horstmann um mehr gelegen: Auf die gesamten Facetten seiner vielgliedrigen Argumentation können wir hier nicht eingehen. Seine Absicht ist, den Suizid von  jedweder Verdammung und Verurteilung zu befreien. Er sei ein Menschenrecht und sollte auch nicht durch Argumentationen wie der Sterbehilfe für Altersschwache oder unheilbar Kranke verwässert werden.

 

 

Sowohl die Einführung wie auch Horstmanns »Schlußplädoyer« verdienen eine aufmerksame Lektüre – und eine ehrliche und grundlegende Debatte über die wissenschaftlichen Fachgrenzen hinweg.