Marcel Proust und die Musik

Hier hält er keine Gitarre in der Hand: Marcel Proust mit Freunden auf dem Tennisplatz

 

 

Marcel Proust und die Musik. Fünfzehnte Publikation der Marcel Proust Gesellschaft, Insel Verlag Berlin 2012, 305 Seiten, 27 Euro.

 

Die Musik scheint eine Schlüsselrolle in Marcel Prousts großem Romanzyklus À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) zu spielen. Bereits im ersten Buch In Swanns Welt wird der Dandy Swann in den Salon der Verdurins eingeführt, in dem auch mehrere Musiker und Komponisten Stammgäste sind. Bei entscheidenden Besuchen Swanns spielt auch die Musik eine tragende Rolle.

Viel ist in den vergangenen Jahrzehnten über die narrative Funktion der Musik in Proust Erzähl-Strategie geforscht worden. Im November 2009 hat sich ein großes Symposion unter dem Titel »Marcel Proust und die Musik« in Wien dem Thema gewidmet. Auf Einladung der renommierten Marcel Proust Gesellschaft fanden sich Proust-Forscher und -Kenner zusammen, um den Wissensstand zu debattieren und Anregungen für zukünftige Untersuchungen zu geben. Die Beiträge des hochkarätigen Symposions sind nun in Buchform erschienen.

Proust nutzte die Musik geschickt, um Themen in den Roman einzuführen. Darüber hinaus hilft sie dem Autoren als narratives Element, Verknüpfungen und Wiederholungen herzustellen. »Dadurch dass ein dominantes Thema variierend wiederholt werden kann«, schreibt Luc Fraisse in ihrem Beitrag, »erweist sich die Musik als befähigt, der thematischen Weite und der Komplexität der Fiktion Rechnung zu tragen. Hinter einem vordergründigen Thema – die unwillkürliche Erinnerung – ist kontrapunktisch ein anderes verborgen – die Geschichte einer Berufung.« Raffiniert nutzt Proust übrigens die Erwartungshaltung seiner Leser, um diese zu brechen. Dadurch erhöht er den Spannungsbogen. Er verbindet die Musik mit den Erinnerungen seiner Leser. Mit den Bildern, die in ihren individuellen Köpfen auftauchen. So zeigt der Autor Proust, dass jeder das Buch durch den Filter seiner eigenen Wahrnehmung liest.

Aber es gibt viele weitere Dimensionen. Durch die Verschmelzung des Romans mit der Musik beschreitet die Erzählung eine andere Dimension: die der Zeit. Musik provoziert Hören und Vergehen – und damit wiederum die Dimension der Zeitlichkeit. »Aber in erster Linie«, erläutert Luc Fraisse, »entspricht die Musik in ihrer Retardation dem zeitverzögerten Wissen des Romans«. Die Gäste des Salons vergessen ob der musikalischen Darbietung, sich über den Komponisten zu erkundigen. So kann Proust die Musik im Roman erklingen lassen, um dramaturgisch Tabula rasa zu machen. Louis Aragon beschrieb Prousts Vorgehen so: »In diesem Grad der Perfektion verfügt die Musik über die seltsame Macht, gänzliche Leere zu schaffen (…) Sie ist wie ein großes Gedächtnis, in dem sich die Gefilde der Umgebung verlieren. Sie bringt eine untergegangene Landschaft neu oder wieder zur Welt.«

Auch die anderen Beiträge sind profund: der zwischenzeitlich verstorbene Theo Hirsbrunner beschreibt den Wagnerismus in Frankreich zu Zeiten Prousts, Angelika Corbineau-Hoffmann erläutert Prousts Verhältnis zu Beethoven. Arne Stollberg diskutiert die so genannten Leitmotive bei Proust nun auch aus musikwissenschaftlicher Perspektive.

Weitere Aufsätze befassen sich mit der Musikauffassung von Andé Gide (der den ersten Abdruck der Recherche in der Nouvelle Revue Français ablehnte und dies später bitter bereute) im Vergleich zu der von Proust, oder mit der problematischen Wahrnehmung Prousts von Geräuschen. Das Thema wird wahrlich tiefschürfend behandelt.

© Matthias Pierre Lubinsky