Die vielen Leben des Benjamin Disraeli: Adam Kirsch verfasste die erste Biographie aus jüdischer Sicht
Adam Kirsch, Dandy, Poet, Staatsmann. Die vielen Leben des Benjamin Disraeli. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2011, 256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Euro 22,90.
Thomas Carlyle bezeichnete ihn als »einen beispiellosen hebräischen Taschenspieler«, was selbst noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine deutliche Ehrverletzung war. Aber diese Bezeichnung für Benjamin Disraeli (1804-1881) zeugt auch davon, wie wenig die Juden zur englischen Gesellschaft gehörten – wie wenig man mit ihnen zu tun haben wollte.
Biographien über den berühmten Britischen Premierminister gibt es eine stattliche Anzahl. Die neueste des US-Amerikaners Adam Kirsch versucht sich über das jüdische Element in Disraelis Leben dieser beeindruckenden Lebensleistung zu nähern. Adam Kirsch ist Literaturkritiker für The New Yorker, The New York Review of Books und andere renommierte liberale Zeitungen in Amerika. Er sieht Disraeli primär als Juden und schreibt an diesem Faktum entlang seine Lebensschilderung.
»Denn Disraelis Jüdischsein stand seinen Ambitionen mehr im Weg als alles andere und war gleichzeitig seine stärkste Antriebskraft. Es inspirierte ihn zu seinen höchst originellen Vorstellungen von Politik und Geschichte, doch machte gerade diese Originalität ihn auch zum ewigen Außenseiter in dem Land, das er schließlich führte. Er war, wie Hannah Arendt schrieb, das Paradebeispiel für die ‚Ausnahmejuden‘ des 19. Jahrhunderts in Europa – assimilierte Juden, die sich Kraft ihrer Fähigkeiten und Begabungen eine gesellschaftliche Stellung eroberten, denen man aber jede darüber hinausgehende echte und ebenbürtige Zugehörigkeit verweigerte.«
Kirsch zeichnet den Lebensweg eines hochintelligenten Mannes, der von ungeheurem Ehrgeiz getrieben ist. Von frühen Jahren an sei es sein Ziel gewesen, es nach ganz oben, in die Führung seines Landes zu schaffen. Seine Herkunft, seine Schulbildung, seine mangelnden Griechisch-Kenntnisse und vieles andere standen dem entgegen. Disraeli schaffte es trotzdem. Er ging als bedeutender Premier in die Geschichtsbücher ein.
Adam sieht einen Grund dafür in Disraelis Fähigkeit, sich die Fakten so zu schaffen, dass sie nicht nur nicht mehr einer Karriere hinderlich sein würden, sondern sogar hilfreich. Ein Beispiel dafür ist die völlig frei erfundene Familiengeschichte der Disraelis. In einer Denkschrift für seinen Vater schrieb der begabte Dandy, die Familie habe einem alten Gutsherrengeschlecht angehört. Die Story klingt wahrlich abenteuerlich: Als die Juden 1492 aus Spanien vertrieben wurden, hätte die Familie Asyl in Venedig erhalten und sich auf der Terraferma niedergelassen. Dankbar, dass der Gott Jakobs sie beschützt habe, hätten sie ihren alten Namen abgelegt und den Namen Disraeli angenommen.
Disraeli arbeitete auf verschiedenen Ebenen an seinem gesellschaftlichen Ansehen, an seiner Maske, die dem grenzenlosen gesellschaftlichen und politischen Aufstieg vorausging. Nicht ohne Grund lautet der Untertitel des Buches »Dandy, Poet, Staatsmann«, wobei wir dieser Reihenfolge ausdrücklich zustimmen. Eine Anekdote über Disraelis dandysm schildert er selbst in einem Brief aus Malta:
»Affektiertheit gilt hier noch mehr als Witz. Als ich gestern beim Tennis auf der Galerie unter Fremden saß, flog der Ball zu uns herein, traf mich leicht und fiel mir zu Füßen. Ich hob ihn auf, und, da ich einen jungen Infanteristen sah, der ungewöhnlich steif dasaß, bat ich ihn ehrerbietig, ihn ins Spielfeld zurückzubefördern, da ich wirklich in meinem ganzen Leben noch nie einen Ball geworfen hätte.«
Nicht zufällig orientierte der junge Disraeli seinen Dandyismus an Lord Byron, der stilgebenden Figur der Regency-Ära. Dieser Über-Dandy hatte die britische Gesellschaft schockiert mit seinen offen geschilderten Sex-Abenteuern, seiner Verhöhnung der gesellschaftlichen Verlogenheit und mit seiner grandiosen Selbst-Mystifizierung.
Byron hatte noch nach seinem Tod die upper class gespalten: Viele rümpften die Nase und konnten die Verehrung gegenüber diesem Selbstdarsteller nicht verstehen oder akzeptieren. Andere einflussreiche Mitglieder der Gesellschaft, wie der Dandy, Schriftsteller und Politiker Edward Bulwer-Lytton, beklagten nach Byrons Tod eine starke Hinwendung zum Utilitarismus. Diese Situation konnte Disraeli geschickt nutzen: Er suchte Personen, die Byron noch begegnet waren, er begab sich zu Orten, die Byron in seinen Romanen nannte. Ja, Disraelis Byron-Kult ging so weit, einen Roman zu schreiben, der an das Leben des großen Vorbildes angelehnt war (Venetia, dt: Der tolle Lord).
Liest man die Biographie von Adam Kirsch, so ist man unweigerlich an Stendhals Julien Sorel aus Le Rouge et le Noir erinnert: Einem von grenzenlosem Ehrgeiz getriebenen jungen Mann steht seine Herkunft im Weg; er jedoch versteht es meisterhaft, die persönlichen Mängel in Stärken umzumünzen.
© DANDY-CLUB 2012