Freiheit oder Paternalismus

Wo sollte staatlicher Einfluss enden? Das Neue Palais in Potsdam





Freiheit oder Paternalismus könnte die jüngste Doppelnummer des Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken überschrieben sein. Denn darum geht es. Und darum geht es im doppelten Sinne: Nicht nur in dieser renommierten Zeitschrift, sondern tatsächlich scheint dies die Debatte zu sein, die dringend ansteht, aber nicht geführt wird. Die bekannten Umwelt-Journalisten Dirk Maxeiner und Michael Miersch stellen in ihrem – dem wohl journalistischsten Beitrag des Heftes – das Staatsdenken dar, in dem wir uns befinden. Ob Fettleibigkeit oder Rauchen, Misshandlungen oder schlechte Ernährung: Wenn der Staat behauptet, dass in einem solchen Feld Handlungsbedarf besteht, dann ist dagegen nichts zu sagen. Alle werden zustimmen oder – im besten Fall schweigen. »Eine sachliche Überprüfung der zahlreichen Präventionsmaßnahmen findet nicht statt. Das Ziel Gesundheitsschutz entwickelt sich zur Blankovollmacht für Eingriffe ins Privatleben,« schreiben die beiden Öko-Journalisten. »Gesunde Ernährung und sportliche Fitness werden von immer mehr Politikern als Staatsaufgabe betrachtet. Und dies, obwohl es zur gesundheitlichen Wirkung der als gut definierten Ernährungsweisen und des Sports kaum gesicherte Erkenntnisse gibt. Gesundheitsbewusstsein ist zum sittlichen Kompass geworden, wie früher der christliche Glauben.«

Paternalismus bezeichnet eine Herrschaftsordnung, die im außerfamiliären Bereich ihre Autorität und Legitimierung auf eine vormundschaftliche Beziehung zwischen Herrscher und Unterworfenen gründet. Das Wort stammt ab vom lateinischen pater (Vater). Paternalistisches Handeln des Staats richtet sich grundsätzlich gegen den (freien) Willen der Betroffenen, gibt aber vor, in deren Interesse zu sein. Was für die Anschnallpflicht im Auto noch nachvollziehbar erscheint, wird immer schwieriger nachvollziehbar: Nicht nur mischt sich der Staat in immer mehr Lebensbereiche ein. Auch wird durch die Zentralisierung auf die EU-Ebene immer weniger nachvollziehbar, was und wozu geregelt wird. Darüber hinaus mangelt es den Verordnungen immer stärker an demokratischer Legitimation.

Die Herausgeber des Merkur, Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, finden in ihrem Editorial deutliche Worte: »Wie weit die soziale Gehirnwäsche vorangekommen ist, lässt sich an einem Sachverhalt besonders klar erkennen: Einer reichen Gesellschaft wie der unseren, die immer schneller eine immer größere Zahl ihrer Mitglieder alimentiert, wird im selben Moment, in dem ihre Großzügigkeit tatkräftig wird, vorgeworfen, sie produziere laut Statistik immer mehr Arme. Und dieser demagogische Schwachsinn, der sozialtherapeutischen Armutsforschung schafft es regelmäßig auf die erste Seite der seriösen Presse, um dann in Leitartikeln händeringend beklagt zu werden!«

Das knapp 300seitige Paperback gliedert sich in zwei große Blöcke. Im ersten werden die großen Schriften des Freiheitsdenkens vorgestellt respektive rekapituliert: Spinoza, John Locke, David Hume und Adam Smith fehlen ebensowenig wie Immanuel Kant, Edmund Burke oder Tocqueville. Im zweiten Block wird eine Gegenwarts-Analyse versucht: Wie ist es um den bundesdeutschen Liberalismus bestellt; wer repräsentiert ihn? Wie frei sind unsere Universitäten? Wie sind Situation und Einstellung des Mittelstandes (»Ohnmächtige Wut«)?

In dem Beitrag von Reinhard Neck über Karl Popper wäre etwas mehr Perzeptionsgeschichte wünschenswert gewesen. Immerhin berief sich der ehemalige Kanzler Helmuth Schmidt auf den englischen Denker. Zur Zeit seiner Kanzlerschaft führten die meisten Parteien das große Wort eines freiheitlichen Gemeinwesens im (Wahlkampf-)munde, – und die Entwicklung geht seither in die umgekehrte Richtung. Für Überwachung, Zensur und Reglementierung gibt es stets neue Argumente und scheinbare Gründe. Für deren Beseitigung nicht. Das scheint auch schlicht in der Natur der Sache zu liegen. Staat, europäischer Superstaat und Bürokratien weiten sich immer mehr aus.

So wirkt es beinahe wie ein ohnmächtiger Hilfeschrei, wenn Gerhard Schulze in seinem Aufsatz über »Gedankenfreiheit in Zeiten der Krise« schreibt, wir bräuchten »gutes Denken und gute Kommunikation. Es ist kein Beinbruch, wenn Menschen verschiedener Meinung sind, im Gegenteil.« Der emeritierte Soziologie-Professor bricht für die einfachsten demokratischen Grundregeln eine Lanze, was uns zu denken geben sollte: »Denken alle gleich, haben sich alle nichts zu sagen. Neues kann man nur voneinander lernen, wenn jeder seinen eigenen Kopf und sein besonderes Wissen hat (…) Im Paradies der herrschaftsfreien Diskurse tauscht man Argumente aus, redet vernünftig miteinander und sucht gemeinsam nach der besten Lösung.«

Wie schlimm ist es um unser Gemeinwesen bestellt?

Karl Heinz Bohrer/ Kurt Scheel (Hg.:) Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Über Freiheit und Paternalismus. Sonderheft Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Klett-Cotta Verlag 2010, 289 Seiten, Euro 21,90.

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