Proustiana XXX
Mitteilungen der Marcel Proust Gesellschaft
Herausgegeben von Reiner Speck,
Rainer Moritz und Alexis Eideneier
244 Seiten, Paperback, Insel Verlag Berlin 2017, 19,95 € (D).
Seit über drei Jahrzehnten berichtet die Buchreihe Proustiana der Marcel Proust Gesellschaft über neueste Erkenntnisse der Forschung zum Autoren, referiert über Veranstaltungen und dokumentiert die neueste Sekundär-Literatur. Die nun erschienenen Proustiana XXX enthalten neben äußerst lesenswerten Aufsätzen die vollständige Liste aller bisherigen Veröffentlichungen der Marcel Proust Gesellschaft.
Freilich – ein Ausnahme-Autor wie der französische Literat Marcel Proust verlangt auch eine besondere Vereinigung, soll er angemessen gewürdigt werden. Prousts Raman-Zyklus À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) umfasst sieben Bände und erschien im Original erstmals zwischen 1913 und 1927. Das Suchtpotenzial dieses ungeheuren Werkes hat so manchen Autoren zu Veröffentlichungen gebracht, was mit einem passiert, wenn man die Lektüre beendet hat. – Ein unermessliche Leere.
Die Marcel Proust Gesellschaft ist das Kind des engagierten Kölner Arztes Reiner Speck. Er gründete die Vereinigung am 18. November 1982 – exakt zu Prousts 60. Todestag. Seit diesem Tag sind im Rahmen der Vereinigung hunderte von Veröffentlichungen entstanden, gefördert und publiziert worden. Dass die Publikationen mittlerweile selbst im doch recht ignoranten Frankreich zunehmend beachtet werden, zeugt von ihrer Bedeutung, die weltweiten Rang besitzt. Die in Proustianer XXX enthaltene Bibliographie ist tatsächlich atemraubend: Über 50 Seiten dieses Paperbacks nimmt sie ein und lässt selbst den Proust-Nicht-So-Kenner in tiefste Hochachtung versinken: Reiner Speck ist genauso besessen, wie der von ihm bewunderte Autor. Übrigens hat Speck die wohl weltweit umfangreichste Sammlung von Proust-Büchern zusammengetragen.
Selbst eingefleischte Proust-Fans werden nicht wissen, wer C. K. Scott Moncrieff war. Der 1889 geborene Schotte ist Prousts erster und bis heute bekanntester Übersetzer ins Englische. In ihrem äußerst lesenswerten Aufsatz portraitiert Alexis Eideneier den überzeugten Soldaten, späteren Agenten und frivolen Proust-Übersetzer. Bildreich schildert Eideneier, dass sich Moncrieff ziemlich große Freiheiten beim Übertragen des Proust-Originals nahm.
Eideneier schildert die Situation nach dem Ersten Weltkrieg, als die französische Kultur den Briten recht fremd war und mit vielerlei Ressentiments belegt wurde. Moncrieff hatte das begriffen und wollte wenigstens das Proust’sche Denken dem englischen Publikum näherbringen. Heute nennt man das Wirkungsäquivalenz: Proust sollte auf die Engländer wirken, – wie auf die Franzosen. Und das war bei einem anderen Kulturkreis eine Herkulesaufgabe. Eideneier bringt den hübschen Vergleich des indischen Dichters Gulzar: Eine Übersetzung sei wie eine Mätresse: Wenn sie treu ist, ist sie nicht schön. Wenn sie schön ist, ist sie nicht treu.
Moncrieff entwickelte mit der Zeit eine effektive Arbeitsmethode, um die schiere Länge des Textes überhaupt bewältigen zu können. Er nistete sich bei Julia Astley Cooper ein, die das mondäne Anwesen Hambleton Hall bewohnte. Moncrieff las ein Textabschnitt des Originals, überlegte kurz und lies sich dann von der Gastgeberin eine Übersetzung diktieren. Im Fortgang dieser Arbeit beschleunigte er den Prozess noch, indem er Julia Cooper den französischen Text vortragen lies, sodass er sogleich seine Übersetzung notieren konnte.
Bereits die ersten Kritiker warfen Moncrieff vor, seine Übersetzung sei stilistisch auffällig in die Nähe zu Henry James gerückt und damit gar kein Proust.
Die Proustiana XXX: Pflichtlektüre für alle echten Proust-Leser. Für alle anderen literarisch Interessierten ungeheuer bereichernd.
© Matthias Pierre Lubinsky 2017