Cover der Residents-LP Third Rich Rock & Roll von 1976:
Das Bild prädestiniert die Erwartung der Hörer
Bernd Stiegler, Randgänge der Photographie.
Wilhelm Fink Verlag 2012, 308 Seiten, Ppb., 39,90 Euro.
Kann sich ein Künstler in unserer modernen Mediengesellschaft konsequent weigern, photographiert oder gefilmt zu werden? Ist es möglich, überhaupt präsent zu sein, ein Publikum zu haben, mit dem Werk wahrgenommen zu werden, – ohne ein Abbild von sich zuzulassen? Es ist möglich.
Bernd Stiegler schildert in seinem neuen Buch Randgänge der Photographie solche Randphänomene des Mediums: Autoren und Musiker, die wahrhaft bildlos sind. Er bezeichnet sie als ikonophob: PeterLicht, Maurice Blanchot, B. Traven oder The Residents. Hinter ihrer Weigerung, Photos ihrer Gesichter zuzulassen, steht eine grundsätzliche Verweigerung gegenüber dem kapitalistischen Verwertungssystem. Die Weigerung, Lesungen zu absolvieren, kennen wir bereits von Botho Strauß und sie hat nachvollziehbare Gründe: Der Leser, so er denn will, soll sich mit seinen Texten auseinandersetzen, sie auf sich wirken lassen. Lesen ist so individuell wie jedwede Wahrnehmung. Warum soll sich der Autor zur Schau stellen, sein Geschriebenes voyeuristisch präsentieren?
Bernd Stiegler schildert, wie es der deutsche Indipop-Musiker und Autor PeterLicht sogar hinbekommt, Preise entgegen zu nehmen, ohne dabei gefilmt zu werden: »PeterLicht hatte als Autor einen Auftritt beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb in Klagenfurt, wo er, den Zuschauern zugewandt, den Kameras den Rücken zudrehte«. Auch in der Harald Schmidt Show trat PeterLicht auf: Wiederum für das Publikum im Studio sichtbar, zeigte er den Fernseh-Kameras nur einen kopflosen Torso. Die US-amerikanische Rockband The Residents (Die Bewohner) treibt das dandyeske vivre masqué auf die Spitze. Die Cover-Bilder ihrer Schallplatten persiflieren seit der ersten, Meet The Residents, von 1974 den Anspruch der Konsumenten und Fans auf ein Eindringen in Privat- und Intimsphäre. Dazu gehört auch eine radikale political incorrectness. So hieß ihr zweites Album Third Rich Rock & Roll und zierte diverse Hakenkreuze. In Deutschland ist es nach wie vor verboten.
Bernd Stiegler ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Die Aufsätze in diesem Band sind – zumeist in wesentlich kürzerer Form – zuerst erschienen in Jahrbüchern, Ausstellungskatalogen und Zeitschriften.
Stiegler behandelt Fragen, die unsere eingefahrenen Sehgewohnheiten und Denkweisen infrage stellen können: Warum photographiert man Wolken? Oder Wie photographiert man Typen, wenn man doch immer ein Individuum photographiert? Es sind Fragen, die sich der Leser vermutlich zuvor nie gestellt hat. Über sie nachzudenken, führt jedoch zu neuen geistigen Ufern.
In dem Kapitel Eine stereoskopische Reise nach Italien stellt Stiegler indirekt die Frage, ob es denn überhaupt noch nötig sei zu reisen, wenn es doch von allem Photos gäbe. Instruktiv ist die Beschreibung der Stereoskopie und ihre kulturellen Auswirkungen: A difference that makes a difference, formuliert der Wissenschaftler. In ihrer Perzeption würden die Stereoskop-Photographien »als Analogien der nicht-apparativen Wahrnehmung begriffen und mit dieser explizit verglichen und meist parallelisiert«. Andererseits würden sie von den Bildern der Einbildungskraft gerade ex negativo unterschieden, da sie ja künstlich sind.
Bernd Stieglers Aufsätzen ist bei aller Seriosität teils ein gewisser Unterhaltungswert eigen, was ihnen eine gewisse Süffisanz verleiht, die über die rein wissenschaftliche Wissbegier des forschenden Lesers hinausreicht. »Um zu wissen, muss man sich ein Bild machen.« Dieser schöne Satz von Georges Didi-Hubermann steht über dem achten Kapitel, in dem sich Stiegler fragt, ob sich Elfen photographieren lassen.
Für jeden, der sich für Photographie und Kunstgeschichte im Weitesten interessiert, ein äußerst lohnenswertes und den eigenen Horizont erweiterndes Buch.