Ken Park. Das Kino-Plakat von Larry Clarks Film von 2003
Ilka Becker, Fotografische Atmosphären. Rhetoriken des Unbestimmten in der zeitgenössischen Kunst. Wilhelm Fink Verlag, München 2010, 215 Seiten, 29,90 Euro.
Als ‚Globalisierung‘ oder ‚Wirtschaftskrise‘ wird die derzeitige Veränderung der Welt von einfältigeren Gemütern wahrgenommen. Jedoch geht die Revolution viel tiefer. So ist in der Kunst eine Verwischung der Grenzen zwischen einer klassischen Kunst, Pop-Art und Werbung festzustellen. Das 21. Jahrhundert knallt in die Hirne mit der Auflösung medialer Unterscheidbarkeiten. Man betrachtet heute nicht mehr ein einzelnes Bild eines Künstlers – sondern sein Werk.
Es ist also an der Zeit, sich mit Fotografischen Atmosphären zu beschäftigen, wie es Ilka Becker in ihrer verdienstvollen Studie tut. Ihr Untertitel: »Rhetoriken des Unbestimmten in der zeitgenössischen Kunst«.
Doch was ist das überhaupt, die Atmosphäre? Ins Spiel zu bringen sind Begriffe wie Aura, Ambient, Stimmung, Glamour und Milieu. Zwanghaft denkt der Kulturmensch an Werke von Benjamin, Derrida, Michel Foucault und auch Peter Sloterdijk, die bereits solide Theorie-Arbeit geleistet haben. Ilka Becker bezeichnet die Fotografischen Atmosphären als »singuläre Effekte (…), die sich aus Lesarten und Bildkonventionen des Fotografischen speisen, ohne jedoch in diesen aufzugehen«. Die Autorin ist sich zugleich der Problematik bewusst, dass jedwede physikalische Versuchsanordnung ihren Versuch beeinflusst. So ist auch jedes Sprechen und Schreiben über die Fotografische Atmosphäre an der Konstruktion und/ oder Wahrnehmung ihrer Effekte beteiligt.
Um sich diesen Atmosphären im Einzelfall anzunähern, wählt die Autorin einige künstlerische Arbeiten, die nach ihrer Auffassung durch ihre individuelle Verknüpfung von Bekanntem und Unbekanntem atmosphärische Qualität beziehen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei nicht die Frage, was eine Atmosphäre ist, sondern die künstlerischen und diskursiven Verfahren ihrer Erzeugung.
Exemplarisch untersucht Ilka Becker die beiden frühen Photobücher von Larry Clark, Tulsa und Teenage Lust. Sie sind mittlerweile zu Klassikern der modernen realistischen Photographie geworden und haben hohe Sammlerpreise. Nach Auffassung der Wissenschaftlerin ist der bahnbrechende Erfolg der Bücher nicht darauf zurückzuführen, dass sie Tabubrüche enthielten: Minderjährige Prostituierte, Drogenkonsum. Wegweisend sei dagegen die Ästhetik gewesen: »Er [Clark] schuf in den 1960er Jahren eine Bildsprache für die Speedjunkie-Subkultur seiner Heimatstadt Tulsa, als deren Protagonist und Beobachter er seine fotografische Praxis entwickelte. Clark hat somit einer Schicht mittelständischer Konsumenten von Mode, Werbeimages und Kunst langfristig die Codes eines mythisch aufgeladenen Underground zur Verfügung gestellt, zu dem sie selbst in den meisten Fällen keinen Zugang haben.« Anders ausgedrückt: Die gelangweilten Mittelschicht-Kids der amerikanischen Vorstädte konnten sich mit Wissen brüsten, das sie nicht selbst erworben hatten. Sie fingen an, etwas nachzuahmen, das sie chick fanden. Dessen Aura sie angemacht hat. Die spezifische Atmosphäre der Bücher schafft Clark durch die strategische Hinzufügung von Texten oder vielleicht besser Textelementen. Dies sind abphotographierte Zeitungsartikel, die wiederum zum Teil in die Polaroid-Aufnahmen integriert sind und so einen atmosphärischen Grund schaffen, vielleicht sogar einen Zeitgeist integrieren oder einen gewissen intellektuellen Anspruch intendieren. Einen der photographierten Clique Jugendlicher – und einen des Photographen. Auf einer anderen Ebene verändern die Texte das Verhältnis zwischen Subjekt und Beobachter/ Dokumentaristen.
Noch einmal gesteigert wird dieses Verhältnis in den späteren Filmen von Larry Clark wie Ken Park von 2003. Hier sind die Protagonisten tatsächlich ein wenig älter. Sie bleiben aber Jugendliche, – und indem der Filmemacher sich als Teil von ihnen suggeriert, gibt er dem nun gereiften Zuschauer die Möglichkeit, nach wie vor in einer jugendlich-subkulturellen Protesthaltung den Film zu sehen.
Vielleicht wären Larry Clarks Bilder ohne den traumatic realism und capitalist nihilism (Hal Foster) der Death in America-Bilder eines Andy Warhol nicht möglich gewesen.
Was nun die Fotografische Atmosphäre tatsächlich ausmacht, ist mit einem Satz kaum zu sagen. Ilka Becker konzediert in ihrer Doktorarbeit: »Insofern Atmosphäre Aussagen zulässt über ein spezifisches Verhältnis des Subjekts zur ihn umgebenden Welt, könnte sie als ein Modus des Fotografischen verstanden werden, der das Subjekt mit Objekten und Räumen in Beziehung setzt und diese Beziehung medial sichtbar macht.«
Ilka Beckers kluge Studie macht Lust, sich mit der Konditionierung unserer Sehgewohnheiten auseinander zu setzen.