Melancholiker Morrissey

Zum heutigen Berlin-Konzert des Oscar Wilde-Fans Morrissey bringt die taz eine Rezension zweier neuer biographischer Bücher über den Brit-Pop-Gentleman:

„Morrissey, der seine Schüchternheit in Interviews gern mit einem gewissen Snobismus überspielt, wird gleich zu Beginn der Teestunde sentimental: ‚Das Cadogan bedeutet mir bekanntlich sehr viel … hier zu sitzen und Oscars Fernseher anzuschauen und genau den Videorekorder, auf dem er sich ,Leather Boys‘ angesehen hat.‘ Wer nicht recht weiß, was britischer Humor ist – beim Melancholiker Morrissey kann er in die Lehre gehen.

Fast 400 Seiten stark ist Len Browns biografische Annäherung an den Popstar; verschiedene Interviews dienen ihr als Primärquelle (…)

Die Darstellung krankt zuweilen ein bisschen an der Sprache; der Klischeebaukasten des Rockjournalisten bietet auch im 21. Jahrhundert noch ziemlich viel Material, und in der Übersetzung ächzt es an der einen oder anderen Stelle, ganz abgesehen von dem etwas schlampigen Lektorat. Aber insgesamt liest man das Gespräch doch mit einigem Vergnügen, weil es tatsächlich um das Werk und die Entschlüsselung einer Künstlerrolle geht.

Es werden viele, auch subtile Bezüge von Morrisseys Musik und Texten zu Sängerinnen und britischen Fernsehshows der Sechzigerjahre aufgezeigt, zu seinem Geburtsort Manchester und natürlich zu den Glamrock-Bands der Siebziger. Der Autor müht sich zudem redlich, nicht in die Boulevardfalle zu tappen und etwa Morrisseys sexuelle Ambiguität in Eindeutigkeit überführen zu wollen – obwohl das Thema immer wieder gestreift wird.

(…) Gavin Hopps hat ebenfalls seinen Wilde gelesen, daneben aber auch Judith Butler und Jacques Derrida (…)

Hopps, der als „Dozent am Institute for Theology, Imagination and the Arts“ der schottischen St.-Andrews-Universität lehrt, wählt freilich einen ganz anderen Ansatz als Brown: Er geht als Kultur- und Literaturwissenschaftler von den Songs aus und betrachtet Morrissey als „lebendes Zeichen“ – als frei flottierendes Identitätsbündel, das freilich nie ganz zu entziffern ist.

Morrisseys Songtexte misst Hopps an kanonisierten Autoren wie Samuel Beckett, John Betjeman, Philip Larkin oder Oscar Wilde – und versucht damit seine These zu untermauern, der 50-Jährige sei „unzweifelhaft der literarischste Sänger in der Geschichte britischer Popmusik“.

Morrissey wird bei Hopps zum aufgeklärten Romantiker, der mit den Zeichen des Pop nicht nur zu spielen versteht, sondern diese wiederum zitiert. So mache sich der Sänger über den Impuls der Auflehnung und des Nichtdazugehörenwollens, dem Morrissey wie kaum ein anderer folgt, als überkommenen Gestus des Pop zugleich lustig.

Bei Morrissey muss selbst das ausgestellte Leiden an den Zeitgenossen und dem eigenen schwachen Ich als „meta suffering“ interpretiert werden. So streift Hopps immer nah am lyrischen Material die diversen Themen der Songs – vom Katholizismus bis zur Homosexualität, von der „Kunst der Schwäche“ bis zur „Treue zum Scheitern“.

http://www.taz.de/1/leben/musik/artikel/1/der-poet-der-frisbeescheibe/

Len Brown: „Im Gespräch mit Morrissey“. Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Karin Lembke.
Hannibal, Höfen 2009, 422 Seiten, 29,90 €

Gavin Hopps: „Morrissey. The Pageant of his Bleeding Heart“. Continuum Books, New York 2009, 302 Seiten, 16,95 €