Elisabeth McClellan: Henry James, 1905,
aufgenommen im State Street Studio von McClellan
in Northampton, MA, USA 1893
Henry James, Bild & Text.
Herausgegeben von Michael Glasmeier und Alexander Roob.
320 Seiten mit 121 Abbildungen, Leinenbroschur, Piet Meyer Verlag Bern, Wien, 28,40 € (D.).
Der Romancier und Kunstkritiker Henry James ist im anglo-amerikanischen Raum eine absolute Größe, er wird kultisch verehrt. In Deutschland kennt man vielleicht noch seinen Namen. Die deutsche Erstübersetzung seiner kunst-ästhetischen Essays Bild & Text sollte diesen Autoren von Weltrang auch bei uns einem größeren Publikum öffnen.
Henry James (1843-1916) wurde in eine gutsituierte Familie New Yorks geboren. Die Familie war durch Immobiliengeschäfte zu erheblichem Vermögen gelangt. Gleichzeitig war sein Vater ein angesehener Intellektueller. Im Elternhaus verkehrten Thoreau, Emerson, Thackerey und andere Geistesgrößen der Zeit. Nicht geschadet hat es ihm, von früher Jugend an mit den Klassikern britischer, US-amerikanischer, französischer und deutscher Literatur vertraut gemacht worden zu sein. Henry James studierte in New York, London, Paris, Bologna, Bonn und Genf. Im Alter von 19 Jahren begann er ein Studium der Rechtswissenschaften an der Harvard Law School, das er nach kurzer Zeit abbrach, weil er sich mehr für Literatur interessierte.
Im Alter von zwanzig Jahren begann Henry James, Beiträge für amerikanische Zeitschriften zu verfassen. Später veröffentlichte er diverse Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane und Essays zur Kunst. Er ging für einige Jahre nach Paris, wo er Artikel für die New York Tribune schrieb. 1875 wurde er in England seßhaft. Zwischen 1906 und 1910 überarbeitete James viele seiner Erzählungen und Geschichten für die New York-Edition, die erste Edition seiner gesammelten Werke, die 1911 erschien. In den Jahren 1913 und 1914 erschienen die ersten beiden Bände seiner Autobiographie, A Small Boy and Others sowie Notes of a Son and Brother. Der dritte Band kam postum 1917 heraus. Henry James starb am 28. Februar 1916 im Alter von 72 Jahren in Chelsea.
Der Stil von Henry James‘ Erzählungen ist ein besonderer: Der Fokus liegt auf der Schilderung des Innenlebens seiner Figuren. Die Handlung tritt dahinter beinahe wie eine Theaterkulisse als sekundär zurück. Henry James beschrieb seine Auffassung über einen Roman, dieser sei vor allem ein individueller, unmittelbar erlebter Lebenseindruck. Je nach der Intensität dieses Eindruckes wäre der Wert der Erzählung ein größerer oder kleinerer. Die Schilderung einer Geschichte durch die Perzeption der Protagonisten wurde berühmt in den epochalen Romanen Ulysses von James Joyce und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust.
Die anspruchsvolle Gestaltung wird dem Inhalt gerecht:
Bild & Text aus dem Piet Meyer Verlag
Henry James intensiv-sinnliche Wahrnehmung wird auch sichtbar in seinen Beiträgen zu Kunst und Gestaltung. Picture and Text erschien erstmals 1893 in New York. Dieser 176 Seiten umfassende wohlfeil gestaltete Band enthielt sieben Essays zur Gestaltung und über graphische Künstler. Im ersten Kapitel behandelt James unter dem Titel Schwarz-Weiß ein Dutzend Zeichner.
In folgenden Kapiteln werden die Maler/Zeichner Edwin A. Abbey, Charles S. Reinhart, Alfred Parsons, John S. Sargent und der große französische Karikaturist Honoré Daumier vorgestellt. Der Band schließt mit einem kurzen Stück über das Theater. Die Originalausgabe enthielt kaum Bilder. Ganz anders die deutschsprachige Erstausgabe: Das Buch ist nun auf 324 Seiten gewachsen und enthält zahlreiche Zeichnungen, Bilder und Karikaturen der besprochenen Künstler. Dies erhöht nicht nur den sinnlichen Lesegenuß, sondern hilft auch beim Verständnis der anspruchsvollen Texte. Gerade, wenn Henry James das Werk eines Zeichners interpretiert/erläutert, ist es gut, wenn dieses in der Nähe des Textes dokumentiert wird. So kann sich jeder Leser buchstäblich ‚sein eigenes Bild‘ machen und seine Perzeption mit der von James abgleichen. Schön ist auch, daß sämtliche Photographien, die der damals noch aufstrebende Alvin Langdon Coburn für die Gesammelten Werke von James anfertigte, dokumentiert werden. Es ist wohl als weiteres Indiz für den ungeheuren ästhetischen Anspruch von Henry James zu werten, daß er für jeden einzelnen Band der New York Edition ein eigenes Photo in Auftrag gab, das dann als Frontispiz fungieren sollte.
Alexander Roob schreibt dazu in seinem detailreichen Nachwort: »Das Medium der Fotografie eröffnete James weitaus bessere Möglichkeiten, die Kontrolle über die Bebilderung seiner Texte zu behalten, als die unberechenbare Illustrationsgrafik. Wie ein Regisseur konnte er nicht nur die einzelnen Motive dieser Reihe bestimmen, sondern legte mitunter auch die Perspektiven fest, aus denen sie aufgenommen werden sollten.«
Henry James wendet bei seinen Beschreibungen von Bildern letztlich die gleiche Technik an wie in seinen Romanen: Er verweigert sich als Autor konsequent jedweden Anspruches auf Objektivität. Existent ist nur das Wahrgenommene. So wie James in seinen Erzählungen die Handlung nur mittels der Gedanken und Gefühle der Personen vorantreibt, beschreibt er auch ein Bild: Er schildert, das was ER darin sieht. Konsequenterweise folgt er damit als Autor der Wahrnehmungsveränderung im 19. Jahrhundert. In den Naturwissenschaften gewann zunehmend die Auffassung, ein gefundenes Ergebnis beruhe primär auf der – individuellen – Wahrnehmung. Ampère wollte zeigen, daß Wahrnehmung auf Gedächtnis beruht. In der Kunsttheorie wurde die Auffassung propagiert, daß Wahrnehmung ausschließlich mittels individueller Betrachtung geschehe. Henry James ist in Bild und Text deutlich von John Ruskin inspiriert, der bereits in seinem einflußreichen Buch Modern Painters Kunst generell als Resultat der Wahrnehmung ansah. James ging in seiner Genialität diesen Weg konsequent weiter: Er beschrieb in seinen Texten die Bilder unentstellt subjektiv. Das Bild ist das, was ich darin sehe. Gleichzeitig schuf er Texte, die geschriebene Bilder sind. So schuf er eine völlig neue Kunstform. Die damals aufkommende perzeptualistische Kunsttheorie stellte die Produktivität des Betrachters in den Mittelpunkt. Henry James erwartet diese Produktivität auch von seinen Lesern.
Das umfangreiche und für einen Zugang zu James‘ Texten wertvolle Nachwort macht mit seinen über 50 Bildbeispielen beinahe ein Drittel des Umfanges des Buches aus. Aufgrund seines hohen Niveaus wird aus der Erstveröffentlichung von Bild und Text quasi ein Handbuch zum obsessiven Verhältnis, das der große Schriftsteller Henry James zum Bild hatte. Durch seine gelungene Gestaltung, die vielleicht sogar Henry James gefallen hätte, ist das Buch aus dem Schweizer Piet Meyer Verlag darüber hinaus für Buchliebhaber ein sinnästhetisches Erlebnis.
© Matthias Pierre Lubinsky 2017