Harry Graf Kessler – 75. Todestag

Harry Graf Kessler 1917
© DLA Marbach

 

 

 

 

Zum 75. Todestag von Harry Graf Kessler rezensiert der DANDY-CLUB den sechsten Band seines Tagebuchs. Kessler wurde 1868 in Paris geboren und starb am 30. November 1937 in Lyon.

 

 

 

Harry Graf Kessler. Das Tagebuch 1880-1937,
sechster Band 1916-1918.
Hrsg. von Günter Riederer, Cotta 2006, 962 Seiten, gebunden in rotes Leinen, Schuber, 58 Euro.

 

 

 

Der Weltbürger und Mäzen Harry Graf Kessler wird 1916 – Mitten im Ersten Weltkrieg – von der Front weg- und abkommandiert: Er soll in der Schweiz die deutsche Kulturpropaganda aufbauen. Dies gibt seinem ausführlichen Tagebuch einen fulminanten Dreh; endlich kann der Homme de lettres wieder seiner eigentlichen Berufung frönen. Denn das diplomatische Parkett und die auf Vollständigkeit ausgerichtete Berichterstattung in seinem Tagebuch liegen dem Adligen mehr als der Fronteinsatz.

 

 

 

Der sechste Band des auf insgesamt neun Bände angelegten Tagebuch-Gesamtwerkes, das bei Cotta erscheint, umfasst mit den Jahren 1916 bis 1918 die zweite Hälfte des Ersten Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegszeit. Kurz nach Abberufung von der Front ist Kessler wieder mitten drin. Mitte September 1916 berichtet Kessler von einem süffisanten Abendessen:

 

Abends im Bellevue mit de Vaux und Schubert gegessen. Der Schützengraben läuft im Bellevue quer durch den Esssaal; Entente rechts, Vierbund links, die ‚table austro-boche‘ in der linken Saalecke, die der Entente-Diplomaten in der rechten. Drum herum gruppiert an kleinen Tischen die Angehörigen der beiden feindlichen Mächtegruppen mit verstreuten Amerikanerinnen und Schweizern. Die Kellner bewegen sich zwischen den Mächtegruppen und spionieren.

 

 

 

Liest man diese detaillierte Berichterstattung, so versteht man, was Fritz J. Raddatz meint, wenn er von Kesslers Tagebuch als einem »veritablen Kultur-Krimi« spricht. Ende Juli 1914 hatte sich der 1868 in Paris geborene Kessler als Hauptmann der Reserve bei seinem Regiment gemeldet. Als Kommandeur einer Munitionseinheit war er zunächst mit in das neutrale Belgien einmarschiert. Bereits im September wurde seine Kolonne nach Ostpreußen verlegt. Im Dezember 1914 erhielt er den Befehl, sich als Ordonanzoffizier bei einem Reserve-Korps zu melden, das nach dem Jahreswechsel an die Front in den ungarischen Karpaten verlegt wurde. Nach der Einnahme Galiziens erreichte das Korps im September 1915 den Nordwesten der heutigen Ukraine, wo Kessler den Winter im Stellungskampf gegen die russischen Einheiten verbrachte. Im April 1916 wurde die Einheit an die Westfront bei Verdun verlegt, um an der Frühjahrsoffensive teilzunehmen. Es kann also nicht behauptet werden, Kessler, der Schöngeist und Kunstliebhaber, wäre sich zum Krieg zu schade gewesen.

 

 

 

Lesenswert ist das ungeheure Tagebuch auch – aber bei Weitem nicht nur – aufgrund der Sichtweise und Einstellung des Barons, der zwar patriotisch ist, dabei jedoch auch Fehlentscheidungen sieht und deutlich kommentiert. So ist im Verlaufe dieses sechsten Tagebuchbandes die Wandlung Kesslers vom eher Rechten zum auf Ausgleich Bedachten, vom Nationalisten zum »roten Graf«, wie ihn der Biograph Laird. M. Easton bezeichnet, zu er-lesen. Entsetzt ist Kessler über die Tatsache und Form des Friedensersuchens Deutschlands:

 

Furchtbarer Abend bei Romberg. Er vertraute mir, vor dem offenen Holzfeuer in seinem Arbeitszimmer, dass unsere Regierung offiziell den Präsidenten Wilson um Einleitung von Friedensverhandlungen auf Grund seiner Bedingungen ersucht habe. Mit anderen Worten, wir haben kapituliert; ohne Vorbereitungen, ohne Tastversuche, plötzlich, ‚de but en blanc‘ und ‚en bloc‘. Wilson wird entweder ablehnen oder erniedrigende Bedingungen stellen.

 

 

 

Kessler, international aufgewachsen, mehrsprachig und auf dem internationalen Parkett zu Hause, wusste, was auf Deutschland zukommen sollte. Das vollständige Versagen seiner eigenen Regierung erschütterte ihn zutiefst. Dennoch ließ er sich die Hoffnung nicht nehmen. Das Tagebuch wird zu Literatur durch Stellen wie diese am selben 4. Oktober 1918:

 

Die Stimmung zwischen Romberg und mir war die einer großen Niederlage; wir schwiegen abwechselnd lange und verfolgten unsere trüben Gedanken im Herdfeuer; ich war einem Schwindel Anfall nah: mir sauste das Blut durch Kopf und Ohren. Romberg sagte beim Abschied: ‚Sie haben Glück, Sie haben keine Kinder.‘ Ich meine ‚Im Gegenteil, jetzt muss man für Enkelkinder sorgen.‘

 

 

 

Wie ein Tagebuch wahrhaft zum Krimi werden kann, erfährt der Leser bei Kesslers Schilderung seines 9. November 1918, als die Revolution den Kaiser zum Abdanken gezwungen hatte.

 

 

 

Vormittags von zuhause fortgehend sehe ich einen Soldaten im Hofe des Potsdamer Bahnhofes neben der aufgefahrenen M.G. Kompagnie eine Menschenmenge haranguieren. Auf den Straßen (Friedrichstr. Linden) ist um diese Zeit (10 ½ bis 11) Alles still. Ich gehe in Uniform unbehelligt bis zur Disconto Gesellschaft gegenüber von der Bibliothek. Von da zu Pilsudski ins Continental. Der Diener, dem ich den Auftrag gegeben hatte, mir für Pilsudski einen Degen zu besorgen, wartete am Continental, um mir zu sagen, dass alle Waffen in den Geschäften beschlagnahmt, ein Degen deshalb nicht zu bekommen sei. Ich ging zu Pilsudski, sagte es ihm, schallte mein altes Feldzugs Seitengewehr ab und gab es ihm als Erinnerung an unsere frühere Waffenbrüderschaft

 

 

 

Der Tagebucheintrag erstreckt sich in dem beinahe tausend Seiten starken Buch über fünf Seiten. Im Fortgang schildert Kessler ausführlich sein Gespräch mit dem Polen und seine Einschätzung, dass eine Abtretung Westpreußens eher eine Revanche denn einen dauerhaften Frieden provozieren würde. Kesslers Schilderungen sind von äußerster Anschaulichkeit. Er beschreibt seine gefährlichen Wege durch das revolutionäre Berlin:

 

Ich zog mir zuhause Zivil an, weil Offizieren die Achselstücke und Kokarden abgerissen wurden…

 

 

Diese Gänge sind lediglich Verbindungswege von einem spannenden Gespräch zum nächsten:

Pilsudski war ernst und bedrückt, weil er den ungeheuren Eindruck der deutschen Vorgänge in Polen fürchtet; die russische Revolution habe wenig gewirkt; weil die Polen die Russen für Asiaten halten; dagegen wenn die Deutschen, Westler, Zivilisierte Revolution machen, das werde unabsehbare Wirkungen haben.

 

 

 

Und dann wieder die Straße:

Erst um fünf gingen wir hinaus. Die Linden waren dunkel und ziemlich leer. Aber fortwährend fegten tutende, ratternde, rotbeflaggte Last Autos dicht mit Bewaffneten besetzt vorüber; ziellos, wie es schien, aus blasser Freude an der Bewegung hin und her-rasend. Die Kerls darauf, Soldaten, auch bewaffnete Zivilisten und einzelne Frauen, schrieen, und die Leute auf der Straße schrieen wieder.

 

 

 

Auch der sechste Band des Tagebuchwerkes von Harry Graf Kessler ist ein Kultur-Krimi vom Feinsten. Wer Zeit und Interesse hat, kann aufgrund der fulminanten Sprache und der minutiösen Ausführlichkeit in eine Zeit eintauchen, die heute so weit entfernt ist.

 

Matthias Pierre Lubinsky