Gustave Caillebotte und die Photographie

Gustave Caillebotte, Parkettschleifer, 1875
© Paris, Musée d’Orsay, Geschenk der Erben von Gustave Caillebotte, 1894
Foto: © bpk | RMN | Hervé Lewandowski

 


Eugène Atget, Asphaltierer, um 1900
aus der Serie Paris, petit métiers
© Bibliothèque historique de la Ville Paris

 

 

Gustave Caillebotte – Ein Impressionist und die Fotografie.
Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt noch bis 20. Januar 2012.
Katalogbuch hrsg, von Karin Sagner und Max Hollein, Hirmer Verlag, Nünchen 2012, 280 Seiten mit 280 Abbildungen, 39,90 Euro.

 

 

»Das ist eine Malerei, die unmittelbar an Fotografie denken lässt«, schrieb ein Kritiker 1877 über den französischen Impressionisten Gustave Caillebotte (1848-1894). Obwohl der Maler bereits zu Lebzeiten ungeheuer einflussreich war und sein Werk denen von Edgar Degas oder Claude Monet, mit denen er befreundet war, in nichts nachsteht, ist er in Deutschland kaum bekannt. Die Ausstellung und der Katalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt Gustave Caillebotte – Ein Impressionist und die Fotografie wollen das ändern.


In der Schirn Kunsthalle Frankfurt ist eine besondere optische Erfahrung zu machen: Die Gegenüberstellung von Motiven Caillebottes mit Photographien aus der Zeit schafft einen Dialog. Der Blickwinkel der Künstler veränderte sich. Interessant werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Paris ausschnitthafte Szenen. Es interessieren eher Details als die Situation im Kontext. Und: Die Bewegung rückt in den Fokus.

 

Betrachtet man beispielsweise die Photographie Asphaltierer von Eugène Atget und sieht sie zusammen mit dem Gemälde Parkettschleifer von Gustave Caillebotte, so ist die Ähnlichkeit beider Werke auffällig. Ohne weiter darüber nachzudenken, geht der Betrachter davon aus, das Photo sei zuerst entstanden. Wie so häufig in der Kunstgeschichte wird wohl das Photo die Vorlage für das Gemälde geliefert haben. Bei Caillebotte ist genau das Gegenteil der Fall. Seine Parkettschleifer malte er 1875. Atget photographierte die Straßenarbeiter um 1900. Der Blickwinkel aus einer halbhohen Position ist bei beiden Werken der gleiche.

 

Was jedoch an Caillebottes Werk am meisten fasziniert, ist die Art, wie es ihm gelungen ist, Bewegung darzustellen. Zahlreiche Skizzen und Vorstudien in Ausstellung und Katalog zeigen, wie akribisch der Maler Bewegungsabläufe studierte und versuchte, diese im Bild zu bannen. So erweisen sich seine Gemälde bei genauerer Betrachtung als »durchdachte Synthesen, als präzise kalkulierte Konstruktionen«, wie Kuratorin Karin Sagner im begleitenden Katalogbuch schreibt. Dabei erweist sich, dass Caillebotte in engem Dialog mit der aufkommenden Photographie stand. Revolutionär und genialisch antizipierte er den photographischen Blick in seinen Bildern. In dem noch neuen Medium Photographie wurden um 1860 durch kürzere Belichtungszeiten Momentaufnahmen möglich. Nun ließ sich Bewegung im Bild festhalten. Straßen und Plätze mit ihren Flaneuren waren ab jetzt keine verzerrten Schemen, sondern wirkten echt.

 

In den 1870er-Jahren kamen die Serienaufnahmen auf. Die so genannten Chronophotographien von Etiènne-Jules Marey und Eadweard Muybridge ermöglichten die Wiedergabe der Haltung eines Gehenden, – wie sie für das bloße Auge nicht wahrnehmbar ist. Die Künstler, von Natur aus an neuen Medien interessiert, waren zahlreich zugegen, als 1881 Muybridge seine Bewegungs-Photographie erstmals der Öffentlichkeit präsentierte.

 

Gustave Caillebotte lebte in einem vermögenden, großbürgerlichen Umfeld. Nach einem Studium der Rechte reiste er 1872 mit seinem Vater nach Süditalien. In Neapel besuchte er den Maler Guiseppe de Nittis, einen Freund von Degas. Nach dem Tod des Vaters 1874 war Caillebotte finanziell gut gestellt und konnte ausschließlich seinen Interessen nachgehen. Neben der Malerei waren dies die Philatelie (und nicht die Philanthropie, wie im Katalog zu lesen), das Sammeln alten Porzellans, Wassersport und die Konstruktion von Segelbooten.

 

Ausstellung und begleitendes Katalogbuch gewähren einen essenziell neuen Blick auf das herausragende Werk dieses radikal-modernen Impressionisten. Ohne die detaillierte Gegenüberstellung von Gemälden Caillebottes mit Photos würde der photographische Blick des Malers nur eine Vermutung, ein unterbewusster Verdacht bleiben.

 

Der Katalog aus dem Münchner Hirmer Verlag ist für Kunstinteressierte unbedingt empfehlenswert, erlaubt er ein Immer-wieder-Nachlesen und -Nachschauen dieses ungeheuer spannenden Dialogs zwischen Malerei und Photographie. Verschiedene Texte beleuchten Aspekte dieser intensiven Phase der Kunstgeschichte: die neue Wahrnehmung der Stadt, die Ästhetik der Arbeit oder Landschaft und Abstraktion sind nur einige der Themengebiete. Eine Biographie von Gilles Chardeau bringt den Ausnahme-Maler dem deutschen Publikum näher. In diesem Zusammenhang empfehlen wir auch das besonders gelungene Künstlerbuch der Kuratorin aus dem Jahr 2009, in dem viele der ausgestellten Werke ausführlich beschrieben werden: Karin Sagner, Gustave Caillebotte – Neue Perspektiven des Impressionismus.

© Matthias Pierre Lubinsky

 


 

Martial Caillebotte, Gustave Caillebotte und Bergère auf der Place du Carrousel, Februar 1892
Photographie © Privatsammlung