Harry Graf Kessler – Das Tagebuch – 1. Band

Mit diesem Tagebuch-Band ist die Edition nach 14 Jahren vollständg.
© Klett-Cotta 2018

 

 

 

 

Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1891
Erster Band des 9-bändigen Gesamt-Tagebuchs 1880-1937
879 Seiten, Leinen mit eingelassenem Titelschild, fadengeheftet, Bildteil, Lesebändchen, im Schuber, Klett-Cotta 2018, 65 €.

 

 

 

Ein unermesslich wertvolles Publikations-Projekt wird am 30. November 2018 abgeschlossen. Mit dem letzten zu veröffentlichenden Band liegt nun das gesamte neunbändige Tagebuch von Harry Graf Kessler vor, das der adlige Diplomat, Verleger, Ästhet und Dandy über 57 Jahre führte. Eine Eloge auf ein publizistisches Mammutwerk.

 

 

 

 

Am 30. September 1887 gesteht Harry Graf Kessler nach über sieben Jahren intensiven Tagebuch-Führens seinem Diarium: »I often think what a fool I am for keeping this diary«. Frustriert notiert der engagierte Schreiber, wen sollte das alles interessieren? Wahrscheinlich wären seine Aufzeichnungen gerade gut genug, um darin Wurst einzuwickeln. Gott sei Dank hat er in doppelter Hinsicht Unrecht behalten. Erstens hat sich seine Frustration offenbar schnell gelegt, denn Kessler schreib unverzüglich weiter. Und zweitens gilt dieses Mammutwerk heute – acht Jahrzehnte nach seinem Tod – als einzigartiges historisches Zeugnis.

 

 

 

Begonnen hatten das Deutsche Literaturarchiv in Marbach (DLA) und der Verlag Klett-Cotta die Publikation 2004. Sie sollte eigentlich 2010 abgeschlossen sein, doch fehlte zwischendurch das Geld. Um die Dimensionen dieses ungeheuren Werkes klarzumachen, hier einige Rahmendaten. Geführt von 1880 bis zu Kesslers Tod 1937, werden insgesamt etwa 14.000 Personen genannt, 5.700 Werke, 4.100 Orte mit fast 1.000 Institutionen und 100 Periodika. Allein aus dieser schieren Quantität lässt sich der Wert als Zeugnis des Fin de siècle erahnen.

 

 

 

Hinzu kommt, dass Kessler aufgrund seiner Ausbildung und familiären Herkunft mit der haute volée Europas verkehrte. Hinzu kommt, dass Kessler eine außergewöhnliche Persönlichkeit war: Vielseitig interessiert, großzügig und im besten Sinne mondän. Hinzu kommt, sein politisch-diplomatisches Engagement. Der Graf war sein Leben lang hoch politisch und begnügte sich nicht damit, das große Erbe sinnlos zu verprassen. Stattdessen war er ein Mäzen von Geschmack und Grandezza. Kessler stellte die künstlerische Potenz eines Menschen über dessen Charakterzüge. So unterstützte er beispielsweise Hugo von Hofmannsthal weiter, obwohl ihn der Schriftsteller im gemeinsamen Bekanntenkreis übelst denunziert hatte.

 

 

 

Der nun erscheinende letzte Band der Tagebücher ist in der Folge der erste. Er umfasst die frühen Jahre von 1880 bis 1891. Unprätentiös beginnt der 12-jährige am 16. Juni 1880 mit nur wenigen Zeilen: »This morning we have arrived at Ems we are staying at the villa Monrepos which is situated on the Lahn…« Man merkt dem Tagebuch-Neuling sowohl noch das kraxelnde Englisch an wie auch die mangelnde Übung im Diariumführen. Was will ich eigentlich festhalten? Aber keine Sorge; auch der junge HGK war schon sehr lernfähig, und Sprache und Inhalt wachsen schnell.

 

 

 

Dieser erste von neun dicken Bänden beinhaltet die Schul- und Studienjahre des werdenden Dandys. Obwohl er selbst nicht ein einziges Mal das Wort Bildung notiert, ist es genau das, worum es geht: Der junge Graf bildet sich selbst hoch diszipliniert zu einem allgemeinwissenden Gentleman heran. Zuerst sicher noch von den Eltern angeleitet – obwohl er deren Hinweise und Wünsche geflissentlich verschweigt – sorgt er alsbald für seine eigene solide Ausbildung. Die alten Sprachen Griechisch und Latein lernte er auf der Eliteschule in Ascot. Die beherrschte er dann so gut, dass er später selbständig Übersetzungen prüfen konnte. Vor Ascot hatte er zwei Jahre lang ein Halbinternat in Paris besucht. Nach zwei Jahren in Ascot wiederum schickte ihn sein Vater 1882 unvermittelt auf das Hamburger Johanneum. So wuchs Kessler nicht nur dreisprachig auf, sondern lernte früh die verschiedenen Kulturen Europas kennen. Nachdem Kessler diese drei Sprachen fließend sprach, lernte er noch Italienisch und Griechisch.

 

 

 

In den später entstandenen Memoiren reflektiert Kessler über seine verschiedenen Bildungsstationen und ist Ascot dankbar für die Implantierung des englischen Gentleman-Ideals, einer unabdingbaren Voraussetzung zum Dandytum. Im Tagebuch begnügt sich der Autor mit bloßen Schilderungen von Erfolgen und Abschlüssen; – auch von der Mühsal ist nie die Rede. Die universitäre Ausbildung ist dann ebenso elitär. Sein dreijähriges Jurastudium in Bonn und Leipzig ergänzt er durch Vorlesungen in Altphilologie, Archäologie, Kunstgeschichte und Psychologie. An diesen Universitäten lehrten damals die Koryphäen der Fächer.

 

 

 

Doch damit längst nicht genug. Quasi nebenbei erfährt der Leser, dass der Student Klavier spielt, Reitunterricht nimmt und sich in einer Studentenverbindung Saufexzessen stellen muss und dabei lernt, auch in angeschlagener körperlicher Verfasstheit Contenance zu wahren.

 

 

 

Hat Kessler in den im ersten Band dokumentierten Jahren noch lange nicht die gesellschaftlichen, politischen und diplomatischen Beziehungen der späteren Jahre, so ist doch erstaunlich, wie er bereits um 1890 zu seinem unprätentiösen Stil kommt. Der Diarist ist ein scharfer Beobachter und kann aufgrund seiner profunden Bildung Menschen und Verhaltensweisen einschätzen, ohne jemals überheblich zu werden. Der erste Band von Harry Graf Kesslers Tagebuch dokumentiert anschaulich die Lehrjahre des späteren bedeutenden arbiter elegantiarum und homme de lettres und zeigt uns Heutigen, dass die Heranbildung von Fachidioten ohne Allgemein- und Herzensbildung ein Holzweg ist.

 

 

Pflichtlektüre!

 

© Matthias Pierre Lubinsky 2018

 

 

Hier kann das Buch direkt bestellt werden:

 

 

 

 

Harry Graf Kessler. Das Tagebuch 1880-1937

 

 

Fünfter Band 1914-1916

Sechster Band 1916-1918

Siebter Band 1919-1923

Achter Band 1923-1926

Neunter Band 1926-1937