Joachim Dyck – Studien zu Gottfried Benn

Lesenswert und erhellend: Die Studien zu Gottfried Benn
© Königshausen & Neumann 2015

 

 

 

Joachim Dyck, „Hätte ich emigrieren sollen?“
Studien zu Leben und Werk von Gottfried Benn.
190 Seiten, Paperback, Königshausen & Neumann 2015, 29,80 Euro(D).

 

 

Gottfried Benn (1886-1956) gilt heute als einer der bedeutendsten deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts. In den vergangenen Jahrzehnten war er ‚umstritten‘, weil er anfangs die Herrschaft der Nationalsozialisten begrüßt hatte und nicht emigriert war. Diese Sicht auf den dichtenden Hautarzt hat sich mittlerweile gründlich verändert. Dazu trugen auch die Veröffentlichungen von Joachim Dyck bei. Einige seiner lesenswerten Aufsätze erscheinen nun in einem eigenen Band.

 


Gottfried Benn ist schon skurril. Einerseits führte er ein sehr bescheidenes, beinahe karges Leben. Seine letzte Wohnung war klein und dunkel. Sie lag an der Belle-Alliance-Straße 12, dem heutigen Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg. Es war weniger eine Privatwohnung als eine kleine Hautarzt-Praxis, in der der Poet zwischen den einzelnen Patienten im Behandlungszimmer seine des Nächtens hingekritzelten Poeme redigierte.

 


Andererseits gehört Benn heute unbestritten zu den größten Akrobaten der deutschen Sprache im vergangenen Jahrhundert. Das muß man sich einmal vorstellen: Da wird einer nicht in die besten sozialen Verhältnisse geboren, kann über Jahre seine Spleens und Wehwehchen pflegen und dann hin und wieder ein Gedicht auf’s Papier werfen. Bei Benn war das ganz anders. Zwischen den beiden Weltkriegen ‚flüchtete‘ er in die Reichswehr, – schlicht, um nicht zu verhungern. Sein Broterwerb als Hautarzt wurde nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend brotloser. Es gab zu viele Ärzte, und die epidemische Verbreitung der Geschlechtskrankheiten konnte eingedämmt werden.

 

 

In dem Text, der dem Sammelband den Namen gab, schildert Joachim Dyck anschaulich, wie es um den Lyriker 1932/33 wirtschaftlich bestellt war: ‚Hätte ich emigrieren sollen?‘ Gottfried Benns Briefwechsel mit Klaus Mann im zeitgeschichtlichen Kontext des Frühjahrs 1933. Benn mußte den Pfennig umdrehen. Er war erst im Frühjahr 1932 zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste berufen worden, was eine große Ehre war. Doch nur wenige Monate später begannen die Nationalsozialisten damit, auf die Akademie und ihre Mitglieder immensen Druck auszuüben: Die angesehene Institution sollte schnellstmöglich gleichgeschaltet werden.

 

 

Der 27-jährige Klaus Mann schrieb Benn aus seinem französischen Exil einen Brief, der von dem Leiter der Abteilung Dichtkunst der Akademie eine klare Entscheidung verlangte, sich auf eine Seite zu stellen: »Wer sich aber in dieser Stunde zweideutig verhält, wird für heute und immer nicht mehr zu uns gehören,« schrieb der von einer vermögenden Familie abgesicherte Klaus Mann. Joachim Dyck versteht es, die (möglichen) Beweggründe Benns für seine Antwort darzulegen, die er in einem Zeitungsartikel gab. Hierin verteidigte er sein zu diesem Zeitpunkt noch aktives Eintreten für den neuen Staat. Allerdings bedingte er von der Redaktion eine Vorbemerkung, die klarstellen sollte, daß seine Haltung in keiner Weise antisemitisch sei. Dyck kann durch intime Kenntnis von Benns Werk und Leben uns Nachgeborenen das nicht immer leicht zu deutende Verhalten Benns verständlicher machen.

 


Dies gilt auch und insbesondere für den gelungenen Aufsatz über Benns wohl wichtigste Freundschaft überhaupt – mit dem Bremer Unternehmer Friedrich Wilhelm Oelze (Freundschaft in Briefen). Beide begegneten sich zum ersten Mal 1934 in Berlin. Aber das war wohl gar nicht so wichtig. Mittlerweile Berühmtheit hat der Briefwechsel der beiden literarischen Freunde erreicht. Er umfaßt über siebenhundert Briefe und Karten und dauerte bis zum Tod Benns. War der arrogante Lyriker anfänglich zu dem Verehrer eher abweisend, so entspann sich im Laufe eine sehr enge briefliche Beziehung, in der Benn den Vertrauten um Rat bat bezüglich Veröffentlichungen und Formulierungen. Joachim Dyck erzählt eindrucksvoll, wie Benn immer stärker sein Werk in den Briefen an den Freund entwickelte, – aus denen dann in der Folge die Bücher wurden.

 

 

Joachim Dyck ist seit vielen Jahren engagiert in Sachen Benn. Neben einer Biographie über Benn hat er viele Aufsätze zu dem von ihm verehrten Lyriker veröffentlicht. Eine profunde Auswahl findet sich in diesem Band. Dyck kann aufgrund seiner Recherchen auch so manch erhellende Anekdote beisteuern, die uns Nachgeborenen die aus einer anderen Zeit stammenden Figuren plastischer werden läßt. Dazu gehört ein Gespräch, das Dyck 1986 mit Fritz Werner führte über den Benn-Freund-Oelze. Werner erzählt dabei süffisant, daß er, als Oelze zum ersten Mal zu ihm zu Besuch kam, dem Gast in seiner gastgeberischen Unbeholfenheit einen Saft serviert habe. Er hätte eine Dose genommen und Oelze den Inhalt in ein Glas gegossen. Am nächsten Tag habe seine Frau ihn darauf hingewiesen, daß es sich bei dem Doseninhalt um ein Konzentrat handelte, das im Verhältnis 1:10 zu verdünnen gewesen sei. Der Bremer Gentleman Oelze, ein Eaton-Schüler, hat sich indessen nichts anmerken lassen und das Glas bis zum Schluß geleert.

 

 

© Matthias Pierre Lubinsky 2015