Henry van de Velde in Deutschland

Ein Belgier im Kreis von deutschen Dandys:
Ursula Muschelers Buch über Henry van de Velde
© Bild: Berenberg Verlag 2012

 

 

 

Ursula Muscheler, Möbel, Kunst und feine Nerven. Henry van de Velde und der Kultus der Schönheit 1895-1914.
Berenberg Verlag, Berlin 2012. 192 Seiten, Halbleinen, Euro 22.

 

Ende des 19. Jahrhunderts taten sich einige Dandys zusammen, um in Deutschland eine Epoche neuer Kultur zu begründen. Sie folgten dabei dem Diktum ihres Haus-Philosophen Nietzsche, zuerst die höhere Gesellschafts-Schicht ästhetisch zu erziehen, um in der Folge ein Land im Stile der Renaissance formen zu können.

Im Zentrum dieses Kreises stand Harry Graf Kessler. 1868 in Paris geboren, besuchte er ein Elite-Internat in Ascot. Aufgrund der Abstammung seiner Eltern war Kessler neben Deutschland und Frankreich in London ebenso zuhause wie in Italien. Die Edition seines umfangreichen Tagebuchwerkes seit 2007 machte den adligen Kultur-Europäer wieder einem größeren Publikum bekannt. Kessler wollte Deutschland kulturell auf eine höhere Ebene heben und suchte sich dafür geeignete Mitstreiter. Einen sah er in dem Belgier Henry van de Velde (1863-1957).

Beide waren sich einig in der Absicht, das Leben als Gesamtkunstwerk gestalten zu wollen. Und beiden waren die Einrichtungen der Wohnungen des deutschen Bürgertums ein Greuel. Der historisierenden Geschmacksverirrung mit Ornamenten, biedermeierlicher Spießigkeit mit dunklen Räumen voller schwerer Möbel wollten sie klare Linien, lichtdurchflutete Freiheit mit wenigen Farben entgegensetzen, die aufeinander abgestimmt waren. Der Belgier ging dabei konsequent weiter als all seine Mitstreiter – wodurch er auch vielerlei Anfeindungen auf sich zog. So musste seine Frau jeweils ein zur Einrichtung passendes Kleid anziehen. Das Geschirr und selbst die Blumen waren en detail integriert. Als van de Veldes Frau einmal ein Kleid aus Kamelhaar anhatte, konnte sich selbst Kessler des Spottes nicht enthalten und berichtete, die Frau hätte ausgesehen, als sei sie achtundvierzig Stunden mit der Eisenbahn gefahren.

Kessler setzte dennoch alles daran, den Großherzog davon zu überzeugen, dass van der Velde zum Bevollmächtigten zur Hebung des Sachsen-Weimarischen Kunstgewerbes ernannt würde. Dies geschah 1901. Sieben Jahre später wurde der belgische Künstler zum Direktor der Großherzoglichen Kunstgewerbeschule Weimar berufen, was er bis 1915, zu deren Schließung blieb.

In ihrem Buch »Möbel, Kunst und feine Nerven. Henry van de Velde und der Kultus der Schönheit 1895-1914« zeichnet Ursula Muscheler ein detailliertes Panorama von van de Veldes Bemühungen. Vor allem von seinen Erfolgen und seinem Scheitern. Denn es war wahrhaftig nicht so, dass ganz Deutschland die neue Kultur-Richtung mit offenen Armen empfangen hätte. Ein beredtes Beispiel für die teils barsche Ablehnung des minimalisierten Designs bot Kaiser Wilhelm II. 1902 nahm van de Velde an der Düsseldorfer Industrieausstellung teil. Als Wilhelm den Raum betrat, blieb er stehen, warf einen entzürnten Blick in den Saal – wie van de Velde später berichtete – drehte sich der ihm folgenden Menge zu und sagte: »Nein, nein, meine Herren, ich verzichte darauf, seekrank zu werden.«

Ähnlich verhielt es sich mit der deutschen Presse: Es gab grenzenlose Verrisse der von van de Velde gestalteten Wohnungen – und glänzende Lobpreisungen. Durch Ursula Muschelers chronologische Schilderung dieser bewegten Jahre, die durch den Ersten Weltkrieg so abrupt beendet werden sollten, entsteht eine Anschaulichkeit, die uns über das bisherige  Bild eines bedeutenden Kunsthandwerkers hinausführt, der nach Deutschland kam und erfolgreich war in seinen Bemühungen, dunklem Biedermeier filigranes Art Déco entgegenzusetzen. Diese kleine Geschichte des Kreises um Harry Graf Kessler – das ist das Buch eigentlich – schildert neben den vielfältigen Bemühungen auch die Verbindungen Kesslers mit Hugo von Hofmannsthal, Edvard Munch, Gerhard Hauptmann und anderen.

Die promovierte Architektin geht auch manchmal Nebenwege, die das damalige Denken, den Zeitgeist versinnbildlichen. Erhellend ist, dass Kessler die Bibel der Décadence, Joris-Karl Huysmans Buch Gegen den Strich zwar kannte, aber ablehnte, weil dessen Held Jean Floressas Des Esseintes ihm zu parvenühaft-verweichlicht war. Nicht ohne Ironie ist dabei, dass van de Velde wie viele andere aus dem Kreis der Kultur-Enthusiasten nervlich ähnlich zerrüttet waren – wie der Romanheld.

Anschaulich eröffnet das in Halbleinen gebundene Buch den Veröffentlichungsreigen, der im nächsten Jahr, zum 150. Geburtstag van de Veldes auf uns zukommen wird. Als Manko wären (noch) mehr Abbildungen wünschenswert, da der Text gerade von der Schilderung der Werke und Ensembles van de Veldes lebt.