Das Plakat der Ausstellung Gesamtkunstwerk Expressionismus in Darmstadt
Geschichte wiederholt sich nicht. Oder doch?
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts schuf der revolutionäre Veränderungswille verbunden mit dem künstlerischen Ausdruck die Bewegung des Expressionismus. Ihr widmet sich eine große Ausstellung auf der Mathildenhöhe in Darmstadt (noch bis zum 13.02.2011): »Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905 bis 1925« ist ihr Untertitel. Begleitet wird die Schau von dem Katalog aus dem Hatje Cantz Verlag (etwa 500 Seiten, 3,3 Kilogramm).
»Du musst Caligari werden« schrie Anfang 1920 ein Plakat von den Litfaßsäulen der deutschen Großstädte. Ein schwarz gekleideter Mann rang im Sturm der gezackten Buchstaben scheinbar ums Überleben. Die Werbung für den Stummfilm Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene verfehlte ihre Wirkung nicht. In einer Zeit, die dem Untergang geweiht schien, schürte sie untergründige Angst und füllte die Kinosäle. Es war der erste expressionistische Film überhaupt. Er hatte ein ungewöhnliches Bühnenbild aus gemalten und gebauten, grotesk verzerrten Kulissen. Seine Handlung rührte an die Ängste der Menschen. Die Handlung: Dr. Caligari stellt auf dem Jahrmarkt ein somnambules Wesen aus, ein Medium namens Cesare, das angeblich wahrsagen kann. Zwei Freunde besuchen gemeinsam die Vorstellung. Einem sagt Cesare den baldigen Tod voraus. Und tatsächlich wird er in der folgenden Nacht ermordet. Nach weiteren Morden stellt sich Caligari als Wahnsinniger heraus, der die Prophezeiungen von Cesare wahr macht, um aus ihnen Profit zu schlagen. Als der ermittelnde Kommissar Caligari auf die Spur kommt, macht der Film einen unerwarteten Schwenk: Die bisherige Filmhandlung scheint nur eine Wahnvorstellung des Kommissars zu sein. Denn der ist plötzlich in einer Irrenanstalt inhaftiert. Caligari dagegen ist der Direktor dieser Anstalt – und vollkommen bei Verstand.
Das Cabinet des Dr. Calibari, Filplakat von 1920
Der Film war außerordentlich erfolgreich. Er wurde nicht nur in Deutschland monatelang vor ausverkauften Kinosälen gespielt, sondern auch nach Amerika exportiert und begründete dort den Ruf des modernen und künstlerisch kreativen deutschen Films. Das Cabinet des Dr. Caligari ist ein Beispiel für ein expressionistisches Gesamtkunstwerk, waren es doch Künstler aus den verschiedensten Bereichen, die hier nun in einer völlig neuartigen Form zusammenarbeiteten. Das Medium wurde in seinen vollen Möglichkeiten genutzt – und gleichzeitig sahen die Maler, Architekten, Bühnenbildner, die ihn schufen, dessen Grenzen. Sie alle sahen im Film die Möglichkeit, ihre phantastische und revolutionäre Idee transformierend zu vermitteln. Gleichzeitig trauten sie dem Film kaum zu, ‚seelische‘ oder ‚geistige‘ Vorgänge darzustellen. Carlo Mierendorff formulierte 1920: »[Das] Bild brennt sich unentrinnbar ein und das ist seine Überlegenheit über die Schaubühne.«
Anita Berber, Tanz ‚Kokain‘, 1922
Die große Leistung von Ausstellung und Katalog liegen darin, zum erstenmal die künstlerischen Entwürfe des deutschen Expressionismus fachübergreifend zu interpretieren. Das ist schon deshalb geboten, weil praktisch alle Künstler sogenannte Mehrfachbegabungen hatten. Damit schufen sie auch eine Durchdringung von Malerei, Skulptur, Theater, Architektur und anderen Feldern. Sie sorgten für Durchlässigkeit, die wiederum das politisch-engagierte Pathos verstärkte. Bruno Taut schuf ein ‚Architekturschauspiel‘: Der Weltbaumeister sollte ein künstlerischer Kurzfilm werden mit abgefilmtem Tanz und Pantomime ohne Figuren, – dafür mit Kaleidoskop-Effekten und animierter abstrakter Malerei. Wie für diese Zeit üblich, produzierte Taut auch gleich die Graphiken für das Programmheft.
Die expressionistischen Filme der damaligen Zeit beschäftigten sich mit politischen und sozialen Fragen wie Sexualität und Prostitution oder psychologischen wie dem Hass. Die künstlerischen Zeitschriften und Buchverlage wurden politisch. Die politischen Zeitschriften hatten ein hohes künstlerisches Niveau. Theater, Kino und Tanz waren kaum noch voneinander zu trennen. Der Maler Ernst Ludwig Kirchner photographierte in seinem Atelier in Berlin-Friedenau nackte Tanz-Sessions oder portraitierte sich selbst in Uniform. Der Architektur wurde eine soziale Funktion abverlangt. Kunst hatte der gesellschaftlichen Veränderung zu dienen.
So sind es die verschiedenen Kunstrichtungen, die zu dieser Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt erlebten. Herauszuheben ist die deutsche Plakatkunst. Für das Berliner Lichtspielhaus Marmorhaus gestaltete Josef Fenneker Filmplakate von ungeheurer Anschaulichkeit.
Walter Gropius formulierte den Gesamtkunstwerksgedanken unter dem Primat der Architektur in seinem Bauhaus-Programm:
»Ziele: Die Sammlung allen künstlerischen Schaffens zur Einheit, die Wiedervereinigung aller künstlerischen Disziplinen – Bildhauerei, Malerei, Kunstgewerbe und Handwerk – zu einer neuen Baukunst als deren unablössliche Bestandteile. Das letzte, wenn auch ferne Ziel ist das Einheitskunstwerk – der große Bau – in dem es keine Grenze gibt zwischen monumentaler und dekorativer Kunst.«
Ausstellung und Katalogbuch bemühen sich, das Expressionistische Gesamtkunstwerk als synästhetische Realität erfahrbar zu machen. Das Resultat ist in beiden Fällen mehr als gelungen: Die Schau in Darmstadt und das beinahe verschwenderisch-bibliophile Buch sind dabei selbst zu synästhetischen Gesamtkunstwerken geworden.
Der offizielle Film zur Ausstellung der Mathildenhöhe Darmstadt
Institut Mathildenhöhe
Olbrichweg 13
64287 Darmstadt
Telefon: +49 6151 – 132778
Telefax: +49 6151 – 133739
E-Mail: mathildenhoehe@darmstadt.de
Der Katalog zur Ausstellung:
Gesamtkunstwerk Expressionismus. Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905 bis 1925,
Herausgegeben von Ralf Beil und Claudia Dillmann, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010. 512 Seiten,467 Abbildungen, 58 Euro.
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