Jacques Rivière – Der Deutsche

Jacques Rivière
© Sammlung Alain Rivière

 

 

Jacques Rivière, Der Deutsche.
Erinnerungen und Betrachtungen eines Kriegsgefangenen.
208 Seiten, geb. mit Schutzumschlag und Leseband, Lilienfeld Verlag 2014, 19,90 Euro.

 

 

Der französische Literaturkritiker und Autor Jacques Rivière (1886-1925) ist in Deutschland nahezu unbekannt. Dabei war er es, der André Gide und damit die damals bedeutendste französische Literaturzeitschrift, Nouvelle Revue Française (NRF), von Marcel Proust überzeugte. Nun erscheint erstmals Rivières provozierender Traktat Der Deutsche.


Jacques Rivière war ein hochbegabter Literaturkritiker. Bereits als Student arbeitete er für die NRF und schrieb brillante Studien über Baudelaire, Andé Gide, Proust, Paul Valéry und andere einflussreiche Schriftsteller. Vor seiner Einberufung in den Ersten Weltkrieg veröffentlichte die NRF den ersten Teil seines Essays zu Rimbaud. Der Sorbonne-Professor René Etiemble hat in jahrzehntelanger Akribie über 3000 Publikationen über Rimbaud untersucht und kam zu dem Ergebnis, Rivières Untersuchung sei – fast als einzige – »un bel essai«.

 

Rivière wurde am dritten Tag der Mobilmachung in Frankreich einberufen. Sein Kampfeinsatz sollte indes nicht lange dauern: Bereits nach wenigen Wochen, Ende August 1914, wurde er mit seiner Einheit von den Deutschen aufgegriffen und gefangengenommen. So hat er schließlich beinahe drei Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft verbracht. In seinem Vorwort zur Buchausgabe schreibt er: »Während dieses langen erzwungenen Aufenthaltes beim Feind hatte ich Zeit, ihn zu beobachten und in meinem Geist die Hauptzüge seines Charakters zusammenzutragen.«


Kurz gesagt: Der junge und intelligente Gefangene lässt an seinen Gegnern kaum ein gutes Haar. Doch ist Rivière in seiner Wahrnehmung viel zu sensibel und genau, um sich in seinen Beschreibungen mit plattem Hass zu begnügen. Süffisant lesen sich die exakten Schilderungen des Benehmens seiner deutschen Wachleute und Kommandierenden. Aufgrund der Vielzahl einzelner Anekdoten ergibt sich beinahe ein deutsches Regional-Psychogramm seiner Erlebnisse mit Sachsen, Bayern und anderen Allemannen.

 

Süffisant schildert der sprachgewandte Autor, wie sich die deutschen Kommandierenden stets um die Sympathie der französischen Gefangenen bemühten. Dies gipfelte in der Frage der Deutschen Unteroffiziere, wer denn den Krieg gewinnen würde. Rivière schildert erstaunt und voller Hohn, wie sie – die Franzosen – dann ihre Befehlsgeber verballhornten, indem die ihnen sagten sie hätten überhaupt keine Chance zu einem Sieg.

 

Die Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft ließen für den jungen belesenen Soldaten den Eindruck zurück, die Deutschen seien ein Volk von profil- und kulturlosen Barbaren, die Freude an der Qual anderer haben. Die Deutschen wüssten nicht, was richtig und falsch ist. So müssten sie sich an anderen orientieren und deren Verhalten übernehmen. Anders als andere Völker hätten die Deutschen keinerlei Gespür für Moralisches. Daher würde sie rein zweckorientiert und opportunistisch agieren.

 

Das Urteil über seine Nachbarn fällt entsprechend vernichtend aus: »Eine so schwerwiegende Trägheit der Empfindung kann ihre Wirkung auf die Intelligenz nicht verfehlen. Die Gleichgültigkeit des Herzens zieht beim Deutschen eine Unfähigkeit, die Unterschiede zwischen den Ideen zu erfassen, und eine Schwächung der Wertvorstellungen nach sich. Die Einförmigkeit seiner Substanz macht sich überall bemerkbar; sie behindert und sie verkleistert in ihm das Urteilsvermögen.«

 

Rivière war klug genug, im Vorwort zur zweiten Auflage in Frankreich seine Rache-Polemik ein wenig zu relativieren und zu erläutern.  Es habe ihm »schon immer an Geduld gefehlt«, liest man da. Er lobt die deutsche Kultur (»ich liebe Bach und Wagner leidenschaftlich«). Er erklärt sein Buch als emotionales und zeitnahes Ergebnis seiner Erfahrungen und als ich-bezogen.

 

Für uns Deutsche ist es dennoch auch heute noch ein bedeutender Spiegel: Wie sehen uns die anderen? – Eine großartige Entdeckung für die deutschen Leser. – Und zudem hoch aktuell.