Marcel Proust (1871 – 1922) im Jahr 1900
Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1 Auf dem Weg zu Swann.
Neuübersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürger Fischer.
694 Seiten, geb. mit Leseband, Philipp Reclam Verlag 2013, 29,95 Euro.
Zuerst: Dem Übersetzer Bernd-Jürgen Fischer und dem Reclam-Verlag sind höchste Anerkennung zu zollen. Allein für den Aufwand und das damit verbundene Wagnis, den mehrere tausend Druckseiten umfassenden Jahrhundertroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust neu übersetzen zu wollen.
Fischer hat für dieses Mammut-Projekt zehn Jahre seines Lebens eingeplant. Spekuliert worden ist von einigen Rezensenten, der Reclam-Verlag wolle damit Suhrkamp direkt angreifen. Das ist gewagt. Aber immerhin stöbert Reclam hier im Heiligtum des angeschlagenen Hauses. Proust ist einer der großen Namen, und wird hier seit Jahrzehnten verlegt in verschiedenen Ausgaben, mitsamt einiger Sekundärliteratur, wozu auch die Veröffentlichungen der deutschen Marcel Proust-Gesellschaft gehören.
Der erste Satz ist stets ein Sakrileg. Ihn lässt Bernd-Jürgen Fischer unverändert stehen: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« Was wäre auch zu verbessern gewesen, lautet das Original: »Longtemps, je me suis couché de bonne heure.«
Beispielgebend für alle kommenden knapp 600 Seiten kann der zweite Satz der Neuübersetzung des Roman-Zyklus stehen, dessen erster Band im Original exakt vor 100 erschien. Denn nun beginnt Proust mit seinen Einschub-Sätzen, die diesen Roman ausmachen – und die vom Leser stets höchste Aufmerksamkeit verlangen. Im Original lautet die Partizipialkonstruktion: »Parfois, à peine ma bougie éteinte, mes yeux se fermaient si vite que je n’avais pas le temps de me dire: (…)« Die Übersetzerin der bisherigen Suhrkamp-Fassung, Eva Rechel-Mertens, macht daraus: »Manchmal fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu denken: (…)«. Fischer-Reclam deuten den Satz im Deutschen so: »Manchmal, wenn ich noch kaum die Kerze ausgelöscht hatte, schlossen sich meine Augen so schnell, dass ich nicht mehr die Zeit hatte, mir zu sagen: (…)«
Martin Mosebach wies in seinem fulminanten Vergleich beider Übersetzungen für die FAZ darauf hin, dass im Deutschen die Augen einem eben zufallen. Fischer sucht nach Modernisierung, steht dabei jedoch vor dem Dilemma, dass der Originaltext ja auch sein Alter hat. Und gerade der bewahrende Dandy Proust ist schwerlich in die Jetztzeit einer grassierenden Sprach-Verflachung zu übersetzen.
Interessant ist, dass beide den nach dem Doppelpunkt folgenden Satz gleich übertragen: »Je m’endors.« Beide machen daraus: »Jetzt schlafe ich ein.« Wenn der Rezensent sich an Dutzende Male erinnert, wo seine abendliche Lektüre durch den unwillentlichen Schlafdrang des Körpers beendet worden ist, dann dachte er nicht, dass er JETZT einschläft, – sondern: »Ich schlafe ein.« So übersetzt es übrigens sogar Google.
Insgesamt ist der ungeheure Wille Fischers zu konstatieren, den genialischen Text im Deutschen zu modernisieren. An vielen Stellen schießt er damit übers Ziel hinaus. Man gewinnt den Eindruck, er wolle die alte Übersetzung unbedingt für überholt erklären. Im Französischen wiegt der gesamte Satz mehr als im Deutschen. In unserer Heiderggerschen Sprache der Präzision sind es dagegen oft die einzelnen Worte, die einem Satz Sinn und Substanz verleihen.
Doch bleibt das größte Manko seiner Neuübersetzung, dass der Text nun den Fluss verliert, den er bei Rechel-Mertens und der behutsamen Anpassung von Luzius Keller in den 1990er Jahren erfuhr. Dennoch sind viele Korrekturen von Fischer gelungen. Bisher heißt es am Ende des zweiten Kapitels, als Swann zurückblickend resümiert: »Wenn ich denke, daß ich mir Jahre meines Lebens verdorben habe, daß ich sterben wollte, daß ich meine größte Leidenschaft erlebt habe, alles wegen einer Frau, die mir nicht gefiel, die nicht mein Genre war.« Fischer ersetzt Genre durch »Fall« und lässt damit das Herz-Stück des ersten Bandes, das zweite Kapitel, stimmiger auslaufen.
Und auch hier bleibt der Einwand: Ein Franzose würde nie so sprechen. Das zeigt die Problematik einer Übersetzung.
Ausdrückliches Lob verdient der 80-seitige Anmerkungs-Apparat von Bernd-Jürgen Fischer. Die Kommentierung erläutert die Namen für Orte und Personen, die Proust sich ausdachte, sowie viele der Andeutungen an historische Ereignisse, die der heutige Leser nicht mehr kennen wird. Bescheiden-entschuldigend erläutert der Übersetzer, die gegebenen Hinweise erfassten nur eine »dünne Oberflächenschicht dieses vielfach und fest mit der Literaturgeschichte und der zeitgenössischen Literatur verflochtenen Werks«.