Marcel Proust in Bildern und Dokumenten

Marcel Proust Sein Leben in Bildern und Dokumenten: Cover des opulenten Bildbandes

 


Marcel Proust – Sein Leben in Bildern und Dokumenten. Hrsg. von Patricia Mante-Proust. Texte von Mireille Naturel, Edition Olms Zürich 2012, 192 Seiten mit etwa 350 Photos, gebunden mit Schutzumschlag, 49,95 Euro.

 

Ziemlich genau vor zehn Jahren, im Dezember 2002, kündigte TV-Entertainer Harald Schmidt an, über Weihnachten Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust lesen zu wollen. Doch damit nicht genug: Er wollte danach den Romanzyklus in seiner Harald Schmidt-Show mit Playmobil-Figuren nachstellen. Das war Versprechen und Drohung zugleich. Jeder kennt den Titel – keiner hat ihn gelesen, könnte man spöttisch das Elend der hohen Kunst zusammenfassen.

A la recherche du temps perdu, wie der französische Originaltitel lautet, ist die ungeheure Anstrengung eines kompromisslosen Kunstwillens, die sucht, die verrinnende Lebenszeit mittels der Kraft von Erinnerung und literarischer Darstellung festzuhalten. Einschließlich von Vorbereitungen arbeitete Proust an dem Mammutwerk von 1908 bis 1922, seinem Todesjahr. Furchteinflößend wie sein Werk, so unnahbar scheint beinahe die Person von Marcel Proust.

Zum 90. Todestag am 18. November 2012 erscheint eine groß angelegte Bildbiographie: Marcel Proust – Sein Leben in Bildern und Dokumenten. Herausgegeben wurde der riesige Band von Patricia Mante-Proust, einer Urgroßnichte des Schriftstellers, die für die Familie den Nachlass des berühmten Vorfahren betreut. In ihrem Vorwort zu dem reich bebilderten Prachtbuch schreibt sie: »In vielen Biographien über Marcel Proust (…) wird das Bild eines Pariser Dandys gezeichnet, der, mütterlicherseits jüdischer Abstammung, von labiler Gesundheit war, latent neurotisch – und der kinderlos starb.« Die attraktive Nachfahrin öffnet das Familienarchiv und zeigt Photos beispielsweise vom berühmten Proust-Portrait von Jacques-Émile Blanche: In der Wohnung von Suzy Monte-Proust Mitte der 1960er Jahre und am Hochzeitstag ihrer eigenen Eltern 1972, wo sie sich vor dem einzigen Ölportrait des berühmten Vorfahren zu positionieren hatten.

Der Bildband präsentiert Marcel Proust über das bisher Bekannte hinaus. Dankenswerterweise werden nicht bereits veröffentlichte Dokumente zum Zigstenmal wiederveröffentlicht. Stattdessen geht der Folioband einen ungewöhnlichen Weg: In sechs Kapiteln werden spezielle Facetten von Marcel Prousts Leben und Schaffen herauskristallisiert. Es werden einzelne Personen, zu denen Proust eine enge Beziehung hatte in ihrer Bedeutung für den Schriftsteller beleuchtet ebenso wie spezifische Orte. Im ersten Kapitel »Kaleidoskop eines Lebens« beschreibt die Autorin Mireille Naturel die berühmte Treppe im Haus seiner Tante Léonie, die ,wie so viele Anker im Leben von Proust, in seinen Epochenroman Einzug gefunden hat: »(…) Und ich mußte ohne Wegzehrung in mein Zimmer. Widerwillig stieg ich Stufe und Stufe hinauf, wider meinen Willen; mein Herz drängte zurück zu meiner Mutter, weil sie ihm nicht durch ihren Kuß die Erlaubnis gegeben hatte, mir zu folgen. Diese verhaßte Treppe, die ich immer so traurig hinaufschlich, verströmte einen Firnisgeruch, der meinen allabendlichen Kummer irgendwie in sich aufgenommen und festgeschrieben hatte und ihn vielleicht noch grausamer auf meine empfindsame Seele wirken ließ, da mein Verstand diesem olfaktorischen Reiz nichts entgegenzusetzen hatte.«

Nadar, Portrait von Marcel Proust am 24. März 1887



Die Gestaltung des ungewöhnlich großzügigen Buches ist dem mondänen Anspruch Prousts angemessen: Das Format überschreitet das übliche Folio. Dadurch können die Photos ihre volle Wirkung entfalten. Landschaftsbilder kommen zur Geltung, Portraits zeigen ihre volle Präsenz, ohne dass der Betrachter näher ans Buch rücken muss. Die listenartigen Beurteilungen der Schulklasse aus dem Jahr 1882/83, in die Marcel ging, werden in der Originalgröße dokumentiert.

Die üppige graphische Gestaltung des gewichtigen Bildbandes sollte nicht über den ebenso anspruchsvollen Text von Mireille Naturel hinwegtäuschen: Die Literaturwissenschaftlerin, die an der Universität Sorbonne Nouvelle lehrt, verfasste zu den Photos, Portraits und Dokumenten fulminant-informative biographische Skizzen. Ihnen gelingt insgesamt eine gleichsam respektvolle wie tiefgehende Annäherung an diesen extrem eigenbrötlerischen und skurrilen Dokumentaristen seiner Zeit.

Der opulente Band ist eine würdige Hommage an den bedeutenden Dandy Marcel Proust, an den geistreichen Chronisten des Fin-de-Siècle.

DANDY-CLUB-Empfehlung! Für alle Verehrer von Marcel Proust: definitely Must-Have!

Matthias Pierre Lubinsky