Ernst Jünger als Pariser Dandy

Ernst Jünger mit Oberst Wildermuth auf dem Dach des Hotel Raphael während des Zweiten Weltkriegs in Paris
Photo: www.frankreich-sued.de

 



Tobias Wimbauer (Hrsg.): Ernst Jünger in Paris.
Ernst Jünger, Sophie Ravoux, die Burgunderszene und eine Hinrichtung. Eisenhut Verlag, Hagen-Berchem 2011, 136 Seiten, Broschur, 12,90 Euro.



Die so genannte Burgunder-Szene ist heute die bekannteste Stelle im mehrere tausend Seiten umfassenden Werk Ernst Jüngers. Jahrzehnte diente sie Jüngers Gegnern als Beweis für dessen Kälte, Herzlosigkeit oder gar Nähe zum Faschismus. Seit einigen Jahren ist eine Debatte in Gang geraten, die Ungeheures, Ungeahntes über diesen stilisierten Tagebucheintrag  zutage gefördert hat – und sicher noch weiter fördern wird.

Zu verdanken ist sie dem Jünger-Forscher und Publizisten Tobias Wimbauer, der in einem aufsehenerregenden Aufsatz im Jahr 2004 Hintergründe und Zusammenhänge zu Jüngers Schilderung recherchiert hat – und damit wohl einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der gesamten Jünger-Perzeption eingeleitet hat. Der Text ist nun mit dazugehörenden Ergänzungen selbständig in Buchform veröffentlicht worden.

Unter dem Datum des 27. Mai 1944 notiert der in Paris stationierte Jünger in seinem veröffentlichten – also stilisierten – Tagebuch:

»Alarme, Überfliegungen. Vom hohen Dache des Raphael sah ich zwei Mal in der Richtung von St. Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen. Es handelt sich um Angriffe auf die Flußbrücken. Die Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten Maßnahmen deutet auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Male, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.«

Für Wimbauer ist die entscheidende Basis von Jüngers Schilderung dessen eigene Lebenssituation im Sommer 1944: Er hatte in Paris eine Liebesbeziehung zu Sophie Ravoux, einer verheirateten Kinderärztin. Süffisant ist nicht nur, dass Jünger sie im zur Veröffentlichung bestimmten Diarium immer wieder erwähnt – unter sieben verschiedenen Pseudonymen. Süffisant ist auch, dass die Geliebte von Jünger schwanger gewesen sein soll und das Kind abgetrieben haben soll. Aber damit nicht genug: Ihr Ehemann war Mitglied der Resistance! In der Einführung zum jüngst erschienenen Briefwechsel zwischen Jünger und Dolf Sternberger wird die Möglichkeit angedeutet, Jünger könne über Monsieur Ravoux Kontakt zur französischen Widerstandsbewegung gehabt haben.

Wirkliche Jünger-Kenner verwundert das nicht.

Wimbauer erläutert die literarischen Vorbilder der Burgunder-Szene. Das wichtigste ist wohl Jünger selbst, notiert er doch direkt am Vortag im Tagebuch, er müsse »die Maximen ändern«. Sein »moralisches Verhältnis« zu den Menschen sei auf Dauer zu anstrengend. Deshalb gelte es für ihn, stärker zum Beobachter zu werden und sich von den Ereignissen weniger in Besitz nehmen zu lassen. Es geht ihm also darum, eine dandyeske Haltung zu gewinnen.

So verwundert es nicht weiter, welches die literarischen Vorgänger sind, die offensichtlich Jüngers Beschreibung beeinflusst haben: Marcel Proust, Oscar Wilde, Balzac. Besonders beeindruckend ist die Parallelität zu einem Gespräch, das zwei Dandys im Paris des Ersten Weltkriegs führen in Prousts Roman Die wiedergefundene Zeit. In Oscar Wildes einzigem Roman Das Bildnis des Dorian Grey ist viel von Blütenkelchen, Wein und auch Burgunder die Rede. Es ist ein Roman, dessen Handlung quasi nur aus einem Gespräch zwischen drei Dandys besteht…

Noch viele Beispiele wären erwähnenswert. Wer sich für Ernst Jünger interessiert, kommt an diesem kleinen Büchlein ab sofort nicht vorbei. Ergänzt ist Wimbauers Aufsatz durch weitere Texte, die den Kontext vertiefen und den sichtbaren Horizont vergrößern. Denn dies herausragende Büchlein stellt wohl erst den Anfang dar.

 



Die Burgunder-Szene bei Harald Schmidt: