Harry Graf Kessler zum Geburtstag

Die Biographie über Harry Graf Kessler von Friedrich Rothe

 



Aus Anlass des heutigen Geburtstages von Harry Graf Kessler (23. Mai 1868 bis 30. November 1937) erinnern wir an die lesenswerte Biographie von Friedrich Rothe aus dem Jahr 2008.

Friedrich Rothe, Harry Graf Kessler. Biographie, Siedler Verlag, München 2008, 351 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Euro 22,95.


„Eine weitere Kessler-Biographie?“ hört man das Raunen in der Kritikerwelt, ist doch erst 2005 eine fulminante Biographie über den großen deutschen Dandy erschienen. Diese kam bei Klett-Cotta heraus, was passend war, ediert der Verlag auch die Neuausgabe der Tagebücher Kesslers, ein auf neun Bände und ein Jahrzehnt angelegtes Mammutunternehmen der Deutschen Schillergesellschaft. Das Erstaunen viel noch größer aus, wurde die wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung des US-Amerikaners Laird Easton doch allgemein hoch gelobt. Was also besser machen, zumal „Harry Graf Kessler. Biographie“ (Siedler) von Friedrich Rothe vielleicht gerade einmal auf den halben Umfang kommt?

Das Buch des Berliner Germanisten, der seit 1974 in Berlin auch eine Galerie betreibt, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es beginnt nicht bei den Geburtswehen der Mutter und endet nicht mit dem Herablassen des Sarges Kesslers. Dies ist ein wenig ironisch formuliert, weil – natürlich – die Herkunft des Adligen und auch die Trauerfeier des auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise Beerdigten Erwähnung finden.

Das Buch ist etwas Anderes. Vielleicht könnte man es eher als „Biographische Annäherung an Harry Graf Kessler“ bezeichnen. Friedrich Rothe versteht es, seiner beschriebenen Person ebenbürtig, in wohlfeiler Sprache, bedeutende biographische Ereignisse im Leben des Grafen zu schildern. Darüber hinaus gelingt ihm, was so vielen Biographen, insbesondere Wissenschaftlern, partout nicht gelingen will. Rothe hat ein feines Gespür für das, was Kessler gedacht, gefühlt haben könnte. Und das sind in einer Biographie jeweils für den Autoren die schwierigsten Momente. Er will sich dem Menschen nähern, und dazu gehört auch, sich auf die Spuren von dessen Gedankenwelt zu begeben. Dabei darf das Ganze nicht ausarten in wilde Spekuliererei, was das gesamte Buch letztlich wertlos machen würde. Rothe nähert sich Kessler unprätentiös, ohne falsche Bewunderung und ohne falsche Ressentiments. Rothes Erläuterungen möglicher Beweggründe und Motive Kesslers sind stets nachvollziehbar und zeugen von einer tiefen Beschäftigung mit dem Objekt seines Portraits. Von Kapitel zu Kapitel wird die Figur Kessler plastischer.

Wer war er denn, dieser Harry Graf Kessler, dass es nun schon die dritte Biographie innerhalb eines guten Jahrzehnts über ihn gibt? Bereits die ersten Jahre legten den Grundstein für sein Dandydasein: Seine Mutter Alice war eine gefeierte Schönheit der Belle Époque. Die Pariser Zeitschriften berichteten häufig über ihr exzentrisches Äußeres. Sie hatte ihre eigenen Vorstellungen über ihr Aussehen und trug auch eigene Ideen. Aus heutiger Retrospektive erinnert sie ein wenig an die verrückte Luisa Casati oder auch an Sarah Bernard. Am meisten jedoch an die Mutter Oscar Wildes. An weibliche Dandys also. Von ihr hatte Harry wohl die Affinität zu Dandyeskem geerbt. Die Gäste seiner Empfänge waren nicht vor der ein oder anderen Überraschung gefeit. So konnte es passieren, dass einer der Gäste am Tisch urplötzlich aufsprang und Künstlerisches vorführte, ob ein Gedicht oder einen lasziven Tanz. Nicht zufällig verglich ihn Van de Velde mit Huysmanns Romanfigur Des Esseintes und Oscar Wildes Dorian Gray. Und nicht zufällig war Kessler von der Bibel des Dandyismus, diesem furiosen „À rebours“, das 1884 in Paris erschienen war, so angetan. Die sehr musische Mutter, die noch mit 56 Jahren auf der Bühne eines Privattheaters überzeugt hat, der rationale Vater. Zwei Jahre auf dem Internat in Ascot taten ein Übriges. Hier lernte er Mitglieder des englischen Hochadels kennen, gab sich selbst den letzten Feinschliff, – wozu allerdings auch Boxkämpfe gehörten. Er ließ sich von seinem Vater eine Weltreise bezahlen, auf der er bemerkenswerte Beobachtungen machte. Wie der Urdandy Brummell ging er dann freiwillig zum Militär und diente ein Jahr bei den Garde-Ulanen in Potsdam.

Kessler war sein Leben lang bemüht, sich zu schulen, wahrzunehmen und aufmerksam zu bleiben. Seine spätere Zugehörigkeit zu den höchsten Kreisen in Deutschland, vor allem in seinen Berliner Jahren am Ende des 19. Jahrhunderts nahm ihm nicht den Blick für das Wahre und Schöne. Nachdem Kessler Anfang 1895 am Hofball im Berliner Schloss teilgenommen hat, kommentiert er bissig das Renovierungsergebnis durch Kaiser Wilhelm II: „Der weiße Saal ähnelt jetzt einem Hotel Essaal; zu viel Gold und zu wenig echtes Material. Die Farben der Frauenkleider wirken in dieser weißen Halle in der rohen Helligkeit des elektrischen Lichtes grell; in giftigen Kontrasten von Grün und Rot sitzt die lange Reihe der Fürstinnen und Botschafterinnen zu beiden Seiten des Thrones beieinander; der Glanz ihrer Diamanten ist in der krassen Beleuchtung hart und unecht; die hohen Damen sehen aus wie eine von einem farbblinden Regisseur geordnete Bank schlecht aufgeputzter Theaterprinzessinnen.“

Kessler war maßgeblich beteiligt an der Herausgabe der Kunstzeitschrift PAN, die eine außerordentliche Wirkung auf die Modernisierung von Kunstverständnis, Sehgewohnheit und graphischer Gestaltung in Deutschland hatte. In allem war er Ästhet. Er gab wunderschöne Buchreihen heraus, wie gerade erst eine Kabinettausstellung im Berliner Bröhan Museum gezeigt hat. Der Weltreisende, Mäzen, Schriftsteller, Diarist war in der Summe all dessen ein wahrer Dandy. Der Kosmopolit und Feingeist, der an der Abnahme der Totenmaske Nietzsches beteiligt war, verträgt noch so manche Biografie. Die nun vorgelegte nähert sich ihm würdevoll und kongenial.