Harry Graf Kessler – Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923

Edward Munch, Walther Rathenau, 1907

 

 

 

Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880 – 1937.
Siebter Band 1919 – 1923, hrsg. von Angela Reinthal, Roland S, Kamzelak und Ulrich Ott.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1095 Seiten, 58 Euro.

 

 

 

 

Am 24. Juni 1922, morgens, wurde der deutsche Außenminister Walther Rathenau ermordet. Er befand sich in seinem offenen Wagen auf dem Weg ins Ministerium, als die drei Attentäter, die der rechtsradikalen Organisation Consul angehörten, an der Königsallee in Berlin-Grunewald, überholten, auf Rathenau schossen und eine Granate ins Auto warfen.

 

 

 

Kaum ein Zeitzeugnis berichtet anschaulicher über die Erschütterung der jungen Weimarer Republik, wie das Tagebuch von Harry Graf Kessler. »Um ½ 12 kommt Guseck in mein Schreibzimmer u. sagt, Ossietzky hat eben telephoniert, Rathenau ist ermordet. Ich war wie vom Schlag gerührt.« Der siebte von insgesamt neun opulenten Tagebuchbänden Kesslers beinhaltet die Jahre 1919 bis 1923, also die unmittelbare Nachkriegszeit. Die Ermordung Rathenaus ist einer der Höhepunkte des Bürgerkrieges, den Kessler und Rathenau, beide musisch und zugleich hochpolitisch, auf je ihre eigene Weise zu verhindern suchten. Am Tag nach dem Anschlag protokolliert Kessler: »Vormittags Massendemonstration im Lustgarten. Über 200000 Menschen; ein Meer von Menschen, über dem zahllose rote und schwarz-rot-goldene Fahnen wehten (…) Die Erbitterung gegen die Mörder Rathenaus ist tief und echt, ebenso der feste Wille zur Republik, der viel tiefer sitzt als der Vorkriegsmonarchistische ‚Patriotismus‘.«

 

 

 

Der 1867 geborene Rathenau entstammte einer Bankiers- und Industriellenfamilie. Nach seinem umfassenden Studium erarbeitete er sich schnell den Ruf eines international anerkannten Fachmanns für Elektrochemie. Rathenau war damit wissenschaftlich am Puls seiner Zeit. 1899 von seinem Vater, dem AEG-Gründer Emil Rathenau, ins Direktorium der AEG berufen, wurde der 32-jährige zum Initiator einer neuen Phase der Industrialisierung in Deutschland, indem er Banken und Wirtschaft wesentlich enger miteinander verknüpfte. 1914 wurde Rathenau die Rohstoffversorgung für den Krieg überantwortet. Innerhalb kürzester Zeit schuf er als Minister eine Behörde, die die gesamte deutsche Industrie der Kriegswirtschaft unterwarf. Heute kaum noch bekannt ist, dass Rathenau einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit war. Sein Hauptaugenmerk galt kultur- und sozialphilosophischen Fragen.

 

 

 

Rückblickend schrieb er selbst über den von ihm eingeschlagenen Weg: »Berufswahl: Schwanken zwischen Malerei, Literatur und Naturwissenschaft. Entscheidung für Physik, Mathematik und Chemie als Grundlage neuzeitlicher Technik und Wissenschaft.« Dennoch schwankte Rathenau als musischer Mensch Zeit seines Lebens zwischen diesen beiden Polen und schien für wohlgesonnene Bekannte wie Kessler nie zufrieden in sich zu ruhen. Seit dem Krieg veröffentlichte Rathenau eine Reihe von Schriften über seine Vorstellungen eines künftigen Wirtschaftssystems für Deutschland. In den Büchern Von kommenden Dingen (1915) und Die neue Wirtschaft (1917) versuchte der Grundlagendenker einen dritten Weg zu finden zwischen zügellosem Kapitalismus und gleichmachendem Sozialismus. Er hoffte auf die kulturschaffenden Kräfte des Bürgertums gegenüber der Empörung des Proletariats. Und Rathenau blieb bei seiner Wahrnehmung nicht auf ökonomischer Ebene stehen. Er spürte die seelische Verarmung, die daraus entstand, daß die Masse in die Großstädte getrieben wurde. Weit über das Ökonomische hinaus war Rathenaus Bestreben eine ganzheitliche Wirklichkeitssicht, in der Intuition, Individualität und Seele im Zentrum standen. Ein Dreivierteljahr vor seinem Tod sagte er in einer Rede prophetisch voraus: »Die Wirtschaft ist das Schicksal. Schon in wenigen Jahren wird die Welt erkennen, daß die Politik nicht das Letzte entscheidet.«

 

 

 

Rathenau war erst mit vierzig Jahren in die Politik eingestiegen, für die Nationalliberalen. 1918, kurz vor der endgültigen Kapitulation wurde Rathenau dann vehement politisch. In einem Aufruf in der Vossischen Zeitung forderte er die Deutschen zur Erhebung auf: »Nicht im Weichen muß man Verhandlungen beginnen, sondern zuerst die Front befestigen. (…) Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unterwerfung.« Rathenau hatte sich damit politisch ins Abseits gestellt. Zuerst wurde er in der Weimarer Nationalversammlung schallend ausgelacht, später verlor er gar seinen Listenplatz. Seine politische Energie nutzte er nun ausschließlich publizistisch. Seine Bücher reichen von der – noch heute als glänzend angesehenen – Studie des gestürzten Kaisers (Der Kaiser, 1919) bis zur harschen Kritik am Weimarer Parlament, das er als »Verlegenheitsbühne« bezeichnete. Die massive Kritik der Rechten an ihm verhalf paradoxerweise Rathenau zur Rückkehr in die aktive Politik. So wurde er nach verschiedenen Stationen zuerst Wiederaufbauminister und 1922 Außenminister. In dieser Funktion versuchte er, durch eine Erfüllungspolitik den Alliierten guten Willen zu bezeugen und diese so von ihren horrenden und faktisch nicht zu erfüllenden Forderungen abzubringen. Rathenau scheiterte jedoch an deren politischen Willen.

 

 

 

Edward Munch, Harry Graf Kessler, 1907

 

 

 

Der Wirtschaftslenker und Staatsmann war gleichzeitig ein brillanter Redner und ein unaufdringlicher Gesellschafter. Damit war es ihm schnell gelungen, in der kaiserlichen Hofgesellschaft Berlins zu reüssieren. Er selbst fühlte sich vor allem in den literarisch-künstlerischen Kreisen zu Haus. Hier freundete er sich an mit Maximilian Harden, Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel, Max Reinhard und anderen. Freilich wurde ihm der Zugang zu diesen Zirkeln durch seinen berühmten Großonkel, Max Liebermann, erleichtert. Das Diarium Kesslers ist eine Parallele zu dem von Rathenau. War Rathenau stichwortartig in seinen Aufzeichnungen, so ist bei Kessler der Versuch von Vollständigkeit und Präzision des Erlebten spürbar. Darüber hinaus verkehrten beide in den gleichen Kreisen, obwohl beide sich in den ersten Jahren in den Tagebüchern nicht nennen. Zur engeren Bekanntschaft zwischen Rathenau und Kessler kam es erst in der politischen Krise nach dem Ersten Weltkrieg. Die Beziehung war keinesfalls eine Freundschaft, wie manche heute behaupten, sondern stets auch von Misstrauen begleitet. So engagierte sich Kessler diplomatisch im Vorfeld des Vertrages von Rapallo (1922). Rathenau hatte Kessler ermuntert, zu der Konferenz von Genua zu reisen, da ihm seine Unterstützung bedeutend sei. Dagegen spürt Kessler: »Mein Eindruck war, dass er [Rathenau] sich nicht gerade besonders freute. Vielleicht fürchtet er, dass ich dort zu pazifistisch wirken u. ihm dadurch seine Kreise stören könnte.« Aufgrund seiner Ausführlichkeit und Präzision, verbunden mit der sozialen Vernetzung, wie man heute sagt, ist das Kesslersche Tagebuch ein unersetzliches »Jahrhundertprotokoll« (Karl Schlögel).